Blausäure
unwirklich, wie ein Fiebertraum. Wie lang hatte sie gedauert? Höchstens sechs Monate. Sechs Monate, während deren Stephen wie gewöhnlich seiner Arbeit nachging, seinen Wahlkreis besuchte, Fragen im Parlament stellte, bei Versammlungen auftrat, mit Sandra über Politik diskutierte – und nur einen einzigen Gedanken hatte: Rosemary!
Die heimlichen Treffen in dem kleinen Appartement, ihre Schönheit, die leidenschaftlichen Liebkosungen, mit denen er sie überschüttete, ihre Hingabe. Ein Traum. Ein betörender erotischer Traum.
Und nach dem Traum – das Erwachen.
Es war ziemlich plötzlich gekommen.
Als käme man aus einem dunklen Tunnel ans Tageslicht.
Am einen Tag noch der verzauberte Liebhaber, am anderen Tag wieder Stephen Farraday, der sich überlegte, dass er Rosemary nicht mehr so häufig treffen sollte. Himmel – sie waren verdammt leichtsinnig gewesen. Wenn Sandra je Verdacht schöpfte… Am Frühstückstisch warf er ihr von der Seite her einen prüfenden Blick zu. Gott sei Dank, sie ahnte nichts. Nicht das Geringste! Dennoch, einige seiner Ausreden, mit denen er in letzter Zeit sein spätes Nachhausekommen erklärt hatte, waren verdammt fadenscheinig gewesen. Manche Frauen hätten den Braten gerochen. Wieder dankte er seinem Schicksal, diesmal für eine Frau, die nicht zum Misstrauen neigte.
Er atmete tief ein. Rosemary und er waren wirklich zu weit gegangen. Ein Wunder auch, dass ihr Mann noch nichts mitgekriegt hatte. Einer dieser lächerlich gutgläubigen Trottel – obwohl er um Jahre älter war.
Was war sie doch für ein hübsches Geschöpf…
Plötzlich musste er ans Golfspielen denken. Frische Luft, die über Sanddünen wehte – Herumstapfen mit den Schlägern – ein weit ausholender Treibschlag – ein netter, sauberer Abschlag vom «Tee» – ein kurzer Chip mit dem Mashie-Schläger. Männer. Männer in Knickerbockern, Männer, die Pfeife rauchten. Und kein Zutritt für Frauen!
Unvermittelt sagte er zu Sandra:
«Wollen wir nicht nach Fairhaven fahren?»
Sie sah ihn erstaunt an.
«Möchtest du gern? Kannst du dich denn frei machen?»
«Ein paar Tage müsste es gehen. Ich muss dringend mal wieder Golf spielen. Ich fühle mich so ausgelaugt.»
«Wenn du möchtest, können wir morgen fahren. Wir müssen nur das Essen mit den Astleys verschieben, und ich muss die Versammlung am Dienstag absagen. Aber was ist mit den Lovats?»
«Ach, lass uns denen auch absagen. Wir denken uns schon eine Ausrede aus. Ich muss mal raus.»
Es waren friedliche Tage in Fairhaven, mit Sandra und den Hunden auf der Terrasse und im alten, ummauerten Gärtchen, Golf in Sandley Heath und Abendspaziergängen runter zur Farm, mit dem verspielten MacTavish auf seinen Fersen. Er kam sich vor wie jemand, der sich von einer schweren Krankheit erholt.
Als er einen Brief mit Rosemarys Handschrift erhielt, runzelte er die Stirn. Er hatte sie gebeten, nicht zu schreiben. Es war zu gefährlich. Zwar fragte Sandra nie nach seiner Post, aber es war trotzdem nicht klug. Auch dem Personal war nicht immer zu trauen.
Leicht verärgert nahm er den Brief mit in sein Arbeitszimmer und riss das Kuvert auf. Seiten! Seiten über Seiten!
Als er las, fühlte er sich wieder in ihren Bann gezogen. Sie betete ihn an, sie liebte ihn mehr denn je, sie konnte es nicht ertragen, ihn fünf ganze Tage lang nicht zu sehen. Ging es ihm genauso? Vermisste der Leopard seine schöne Äthiopierin?
Er lächelte seufzend. Dieser alberne Scherz! Er war entstanden, als er ihr einen seidenen Herrenmorgenmantel schenkte, der es ihr angetan hatte, gefleckt, mit schwarzen Tupfen. Der Leopard, der sein Fell wechselte.
«Aber du musst deine Haut nicht ändern…», hatte er zu ihr gesagt.
Seitdem hatte sie ihn mit «Leopard» angeredet, und sie war seine «schwarze Schöne» gewesen.
Verdammt albern eigentlich. Ja, verdammt albern. Süß von ihr zwar, ihm so eine ellenlange Epistel zu schreiben. Dennoch, sie hätte es nicht machen dürfen. Verdammt noch mal, sie mussten vorsichtig sein! Sandra war nicht der Typ Frau, die irgendetwas dergleichen hinnehmen würde. Wenn sie je Wind davon bekam – Briefe zu schreiben war gefährlich. Das hatte er Rosemary ausdrücklich gesagt. Warum konnte sie nicht warten, bis er wieder in London war? Verdammt, in zwei, drei Tagen würde er sie sehen…
Am nächsten Morgen lag ein weiterer Brief auf dem Frühstückstisch. Dieses Mal fluchte Stephen innerlich. Sandras Blick schien für ein paar Sekunden auf dem Umschlag
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