Blausäure
«Wir müssen nicht hingehen.»
Sandra wandte ihm das Gesicht zu, ein nachdenkliches, aufmerksames Gesicht.
«Meinst du nicht?»
«Wir finden leicht eine Entschuldigung.»
«Dann wird er nur darauf bestehen, dass wir ein anderes Mal kommen – oder diesen Termin verschieben. Er – er scheint es sich in den Kopf gesetzt zu haben, dass wir kommen sollen.»
«Ich verstehe nicht, warum. Es ist Iris’ Feier – und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so großen Wert auf unsere Gesellschaft legt.»
«Nein – nein – »
Auch Sandras Stimme klang nachdenklich. Dann fragte sie:
«Du weißt, wo die Feier stattfinden soll?»
«Nein.»
«Im Luxembourg. »
Der Schock verschlug ihm fast die Sprache. Er fühlte, wie die Farbe aus seinen Wangen wich. Er nahm sich zusammen und erwiderte ihren Blick. Bildete er es sich nur ein, oder las er in ihren fest auf ihn gerichteten Augen eine Botschaft?
«Aber das ist ja absurd!», rief er aus. Er übertrieb seine Empörung noch ein bisschen, um seine eigenen Emotionen zu überspielen.
«Das Luxembourg, wo – um das alles noch mal hochkommen zu lassen. Der Mann muss verrückt sein!»
«Daran habe ich auch schon gedacht», sagte Sandra.
«Wir gehen natürlich nicht hin! Diese – die ganze Sache war doch höchst unangenehm. Erinnere dich, die Öffentlichkeit – die Bilder in den Zeitungen!»
«Ich erinnere mich an alle Unannehmlichkeiten», sagte Sandra.
«Sieht er denn nicht, wie unerfreulich es für uns wäre?»
«Weißt du, Stephen, er hat einen Grund. Einen Grund, den er mir genannt hat.»
«Und der wäre?»
Er war ihr dankbar, dass sie ihn nicht ansah, als sie sprach.
«Nach dem Mittagessen nahm er mich beiseite. Er sagte, er wolle mir etwas erklären. Er erzählte mir, dass das Mädchen – Iris – sich nie richtig von dem Schock erholt hat, den der Tod ihrer Schwester für sie bedeutet.»
Sie hielt inne, und Stephen sagte widerwillig:
«Nun, das mag vielleicht stimmen – sie sieht alles andere als gut aus. Beim Essen dachte ich noch, wie elend sie aussah.»
«Ja, das habe ich auch bemerkt – obwohl sie in der letzten Zeit im Großen und Ganzen in guter körperlicher und seelischer Verfassung schien. Aber ich erzähle dir ja nur, was George Barton sagte. Er erzählte mir, dass Iris das Luxembourg vollständig gemieden hat, jedenfalls soweit sie es konnte.»
«Das wundert mich nicht.»
«Seiner Meinung nach ist das ganz falsch. Er hat anscheinend einen Spezialisten zu diesem Thema konsultiert, einen Nervenarzt – einen von diesen modernen Analytikern –, und dessen Rat war, dass man nach einem Schock – egal welcher Art – der Ursache des Schocks nicht aus dem Wege gehen darf, sondern ihr ins Gesicht sehen muss. Dasselbe Prinzip, nehme ich an, wie bei einem Sportflieger, der sofort nach einer Bruchlandung wieder hochgeschickt wird.»
«Empfiehlt der Fachmann einen weiteren Selbstmord?»
«Er empfiehlt, dass die mit dem Restaurant verbundenen Assoziationen überwunden werden», antwortete Sandra ruhig. «Schließlich ist es nur ein Restaurant. Er empfiehlt, einen ganz normalen netten Abend dort zu verleben, mit, soweit es geht, denselben Gästen wie damals.»
«Wie reizend für die anderen!»
«Macht es dir so viel aus, Stephen?»
Seine Alarmlampen leuchteten auf.
«Natürlich macht es mir nichts aus», sagte er schnell. «Ich halte es nur für eine ziemlich makabre Idee. Mir selbst macht es nicht das Geringste aus – ich dachte nur an dich. Aber wenn du nichts dagegen hast – »
«Natürlich habe ich etwas dagegen», unterbrach sie ihn. «Sehr viel sogar. Aber die Art und Weise, wie George Barton fragte, machte es sehr schwierig, sich zu entziehen. Und ich bin schließlich seitdem ziemlich oft im L u xembourg gewesen – und du auch. Man wird ja andauernd dorthin eingeladen.»
«Aber nicht unter solchen Umständen.»
«Nein.»
«Du hast Recht, es ist schwierig, sich zu entziehen», sagte Stephen. «Wenn wir uns jetzt drücken, wird die Einladung nur erneuert werden. Aber es gibt keinen Grund, Sandra, warum du es auf dich nehmen solltest. Ich gehe hin, und du sagst im letzten Moment ab – Kopfschmerzen, Schnupfen – irgend so ein Grund.»
Er sah, wie sie ihr Kinn hochreckte.
«Das wäre feige. Nein, Stephen, wenn du hingehst, dann will ich auch hingehen. Schließlich – » sie legte eine Hand auf seinen Arm – «mag unsere Ehe auch noch so wenig bedeuten, so bedeutet sie doch zumindest, dass wir unsere Probleme teilen.»
Er
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