Bleib ungezaehmt mein Herz
dem es vor zwei Jahren gelungen war, den Marquis als Zuschauer bei einem Preiskampf zu bestehlen. Carrington hatte in dem Gedränge gar nicht gemerkt, daß seine Uhr verschwunden war, bis ein aufmerksamer Zuschauer laut »Achtung, Diebe!« schrie. Die panische Angst in den Augen des Jungen, als man ihn am Kragen packte, hatte eine starke Wirkung auf Marcus gehabt, der den schmächtigen Körper schon an einem Galgen in Newgate Yard hatte baumeln sehen. Marcus hatte sich über den Protest der aufgebrachten Bürger hinweggesetzt und den Jungen seinem Stallmeister übergeben, mit der Weisung, ihm schonungslos einzubleuen, welche Folgen Diebstahl hatte, und ihn tüchtig im Stall arbeiten zu lassen. Seitdem war Tom Marcus absolut ergeben, und er hatte einen Grad von Intelligenz bewiesen, der ihn durchaus für eine Aufgabe wie diese befähigte.
Nachdem die Sache nun in die Wege geleitet war, blieb Marcus nichts anderes übrig, als abzuwarten. Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, fragte sich, wem er nun die
Schuld an dem Mißverständnis geben sollte, das soviel Kummer verursacht hatte. Sie waren beide verantwortlich dafür, aber wenn er die Frage mit aller Ehrlichkeit bedachte, mußte er wohl oder übel zugeben, daß er den ersten Stein geworfen hatte.
Der Landauer hielt vor einem hohen, gepflegten Haus in Cambridge Gardens, North Kensington, und drei Frauen stiegen aus und blickten sich mit der Neugier derjenigen um, die sich auf unbekanntem Terrain wiederfinden. Kensington war natürlich ein durchaus respektabler Stadtteil, gehörte aber nicht zu den vornehmen Bezirken Londons und wurde eindeutig nicht von den oberen Zehntausend aufgesucht.
»Was für ein seltsamer Ort, den Judith sich da ausgesucht hat«, meinte Isobel befremdet.
»Was für ein seltsamer Schritt, zu dem Judith sich da entschlossen hat«, erwiderte Cornelia präziser, als sie ihren Rocksaum hob und ihn vergeblich schüttelte, um irgend etwas Klebriges loszuwerden. »Wie ist das denn an meinen Rock gekommen?« Sie starrte feindselig auf den Stoff, als wäre er allein für den unappetitlichen Zustand verantwortlich.
Keine ihrer Freundinnen machte sich die Mühe, die offensichtlich rhetorische Frage zu beantworten. »Führen Sie die Pferde auf und ab, wir sind in ungefähr einer Stunde wieder zurück«, wies Sally ihren Kutscher an, bevor sie den Türklopfer an der blaugestrichenen Tür betätigte.
»Es sieht nicht nach einem Hotel aus.« Isobels Erfahrungen mit Hotels beschränkten sich auf Etablissements wie das Brown's oder das Grillon's.
Die Tür wurde jedoch prompt von einem Hausmädchen geöffnet, das bestätigte, daß dies tatsächlich Cunningham's Hotel sei und Mrs. Cunningham sich sofort um die Damen kümmern würde.
Mrs. Cunningham war eine respektable Frau in glänzendem Satin und voller Liebenswürdigkeit, während sie diese drei unverkennbaren Mitglieder der High-Society in ihrem Haus willkommen hieß.
»Wir wollten zu Lady...« Cornelia brach ab, als Sally ihr auf den Fuß trat.
»Zu Mrs. Devlin«, erklärte Sally hastig. »Wir haben gehört, Mrs. Devlin wohnt hier.« Judiths Brief, den Sebastian bei Sally vorbeigebracht hatte, hatte die drei Freundinnen vorgewarnt, daß sie unter Marcus' Familiennamen in Cunningham's Hotel wohne.
»Ja, richtig.« Mrs. Cunninghams Lächeln wurde noch breiter. »Sie hat die schönste Suite auf der Rückseite des Hauses, ruhig und gemütlich, so wie sie es wünschte, mit Blick auf den Garten. Dora wird Sie hinaufbegleiten, und ich lasse Ihnen Tee heraufschicken.«
Sie folgten dem Hausmädchen die Treppe hinauf und einen langen Gang hinunter bis zu einer Doppeltür im hinteren Teil des Hauses.
Judith saß in einem Sessel am Fenster, über ein Schachbrett gebeugt, als ihre Freundinnen hereinkamen. Sie sprang mit einem freudigen Ausruf auf. »Oh, wie schön, daß ihr alle gekommen seid. Ich habe mich schon schrecklich einsam gefühlt und mir gründlich selbst leid getan.«
»Selbstverständlich sind wir gekommen«, sagte Sally und blickte sich in dem Wohnzimmer um. Es war nett eingerichtet, aber nicht mit dem gelben Salon am Berkeley Square zu vergleichen. »Was hast du eigentlich vor, Judith? In deinem Brief stand keine Erklärung, und Sebastian wollte nichts sagen.«
»Nachdenken«, antwortete Judith. »Das habe ich vor, aber bis jetzt sind mir noch keine vernünftigen Gedanken gekommen... oder wenigstens tröstliche«, fügte sie hinzu.
»Also, was ist passiert?« Cornelia setzte sich aufs
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