Bleib ungezaehmt mein Herz
hätte.
Wütend schloß er die Verbindungstür auf, stürmte in sein Zimmer und klingelte nach Cheveley.
»Ihre Ladyschaft ist aufs Land gefahren«, sagte er kurz angebunden, als der Kammerdiener erschien. »Sie hat plötzlich Nachricht bekommen, daß ihre Tante erkrankt ist, und mußte sofort aufbrechen. Informieren Sie bitte Millie davon, ja?«
»Ja, Mylord.« Cheveley hatte zuviel Übung im Verbergen seiner Gefühle, um auch nur die geringste Überraschung über diese außergewöhnliche Information zu zeigen. Er half Seiner Lordschaft beim Ankleiden und stand geduldig mit einer großen Auswahl an Halstüchern bereit, falls die ersten Versuche erfolglos sein sollten. Doch der Marquis schien an diesem Morgen leicht zufriedenzustellen zu sein und verbrachte weniger als fünf Minuten mit den kniffligen Feinheiten des Halstuchbindens.
Marcus steckte eine Schnupftabakdose aus Sevresporzellan in seine Tasche und ging die Treppe hinunter zum Frühstückszimmer. »Gregson, lassen Sie meine Kutsche Vorfahren«, bemerkte er über seine Schulter.
Gregson verbeugte sich als Reaktion auf den knappen Befehl.
Der Marquis trat ins Frühstückszimmer und ließ die Tür mit einem beherrschten Knall ins Schloß fallen. Er goß sich Kaffee ein, nahm sich eine Portion Rührei, gewürzt mit frischen Kräutern, und setzte sich an den Tisch. Langsam begannen sich die widersprüchlichen Gefühle, die in seinem Innern um Vorherrschaft kämpften, zu ordnen. Er trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken und starrte blicklos über den Tisch, während seine Eier auf dem Teller vor ihm kalt wurden. Er mußte Judith natürlich finden und sie zurückbringen. Ganz egal, was zwischen ihnen stand, ganz egal, was für eine Zukunft sie erwartete, Judith war immer noch seine Frau, ob es ihr gefiel oder nicht. Betrügerische, berechnende Abenteurerin oder nicht, sie war seine Frau, ob es ihm paßte oder nicht. Und bei Gott, wenn er Judith fand...
Marcus schob heftig seinen Stuhl zurück und trat ans Fenster. Es war ein strahlender Morgen, leichter Rauhreif glitzerte auf dem Rasen. Er war wütend auf Judith, weil sie ihn in diese Lage gebracht hatte, aber es war nicht nur Wut, was er empfand. Jawohl, Judith mußte zurückkommen. Sonst wäre der Skandal unausdenkbar. Doch er hatte mehr als nur Ärger gefühlt, als er in der Tür zu ihrem leeren Zimmer stand... einem Zimmer, das auf einmal seelenlos und fremd wirkte. Selbst das Haus schien verändert, als wäre es einer elementaren Gegenwart beraubt worden, die ihm Leben eingehaucht hatte. Langsam zwang Marcus sich, das Gefühl zu benennen, das in dem leeren Raum auf ihn eingestürmt war. Angst vor Verlust. Panische Angst. Auch jetzt fühlte er, wie die Angst unter seiner Wut hervorkroch. Anders konnte er es nicht beschreiben.
Er begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu marschieren, versuchte herauszufinden, was dies bedeutete. Hieß es, daß Judiths Täuschungsmanöver keine Rolle spielten? Hieß es, daß er gewillt war, sich benutzen zu lassen, wenn es der Preis für ihre Anwesenheit in diesem Haus war? Oder bedeutete es schlicht und einfach, daß er bereit war, die Bestrafung rückgängig zu machen, wenn Judith ihm einen eigenen Kompromiß anbot? Konnten sie von neuem beginnen? Was war es, was er zu verlieren fürchtete - die Hoffnung auf Liebe oder die Gewißheit von Lust?
In Gedanken hörte er Judith lachen - dieses freche, sinnliche Lachen -, und der Klang nahm ihm den Atem. Er fühlte förmlich ihren Körper unter seinen Händen, wie in einem besonders lebhaften Traum. Er konnte die köstliche, nach Lavendel duftende Frische ihrer Haut riechen. Der Kopf mit dem leuchtend kupferfarbenen Haar, die großen goldbraunen Augen erschienen vor seinem inneren Auge. Aber es war nicht nur das, oder? Es war Judith in ihrer gesamten Persönlichkeit. Judith mit ihrem stürmischen, leidenschaftlichen Temperament, ihrem scharfen Verstand, ihrer spitzen Zunge, ihrem ansteckenden Sinn für Humor. Judith mit dem Stolz eines Luchses und ihrem heftigen Drang nach Unabhängigkeit. Es war die Frau, die eine Pistole trug, die in Zeiten der Not nicht den Mut verlor, die Frau, die nicht lange zauderte und sich nicht zu schade war, sich inmitten der blutigen Überreste eines Schlachtfelds abzuplagen, die Verantwortung für sich selbst übernahm.
Es war die Frau, von der er geglaubt hatte, er müsse sie sich unterwerfen. Der Gedanke, wie töricht und unangebracht seine Absicht gewesen war, ließ Marcus sarkastisch den
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