Bleib ungezaehmt mein Herz
funkelte Marcus zornig an. »Also, wo ist sie?«
»Setz dich.« Marcus wies auf einen Stuhl. »Und hör auf, mich so drohend anzustarren, Charlie.«
»Ich will mich nicht setzen. Ich will wissen, wo Judith ist. Ich habe sie gestern gesehen, und da hat sie nichts davon erwähnt, daß sie irgendwohin fahren würde.«
»Erstattet sie dir Bericht über alle ihre Schritte?« fragte Marcus freundlich.
Charlie wurde rot, sein Blick noch finsterer. »Natürlich nicht, aber sie würde nicht einfach wegfahren, ohne es mir zu sagen. Ich weiß es.«
Marcus seufzte. »Also, worauf willst du hinaus? Du beschuldigst mich doch nicht allen Ernstes, sie irgendwie aus dem Weg geschafft zu haben, oder?« Seine Augenbrauen schnellten in die Höhe.
Charlies Wangen färbten sich noch dunkler bei der sarkastischen Frage. »Nein, natürlich nicht... aber... aber...«
»Ja?« drängte Marcus.
»Aber es könnte ja sein, daß du sie auf irgendeine Weise verärgert hast«, platzte Charlie heraus. »Ich weiß, was für teuflisch scharfe Bemerkungen du machen kannst, wenn du aufgebracht bist.«
Marcus runzelte die Stirn. »Bin ich wirklich so unausstehlich, Charlie? Ich bemühe mich doch nur, dein Freund zu sein.«
»Ja, ich weiß.« Charlie spielte verlegen mit einer Gabel auf dem Tisch. »Es ist nur so, daß du schrecklich streng in manchen Dingen bist, und du hast eine scharfe Zunge. Manchmal kommt man sich bei dir wie ein Wurm vor.«
Marcus zuckte zusammen bei der unverblümten Bemerkung, mußte jedoch zugeben, daß Charlies Beschwerde eine gewisse Berechtigung hatte. Er musterte seinen Cousin nachdenklich. Dies hier konnte nicht leicht für Charlie sein, den es immer Überwindung kostete, sich zu behaupten. Judith hatte ganz sicher die Fähigkeit, Loyalität und Freundschaft in anderen Menschen zu erwecken. Marcus fragte sich, warum er nicht schon eher bemerkt hatte, wie innig die Beziehungen waren, die
Judith in den wenigen Monaten seit ihrer Ankunft in London aufgebaut hatte.
»Ich möchte nur sicherstellen, daß du ein Vermögen zu erben hast, wenn du volljährig wirst«, sagte er milde.
»Aber wo ist Judith?« Charlie setzte sich abrupt und stach mit seiner Gabel in einen Speckstreifen. »Sie ist doch nicht verletzt, oder?«
Marcus schüttelte den Kopf. »Nicht daß ich wüßte, Charlie. Und ganz sicher nicht durch meine Hände, falls es das ist, was du denkst.«
Charlie kaute Speck und schluckte hart. »Aber wo ist sie?«
Marcus seufzte. »In Kensington. Aber wir fahren heute für einige Wochen zum Carrington-Landgut.«
»Kensington?« Charlies Verwunderung war so groß, als hätte sein Cousin gesagt, Judith sei auf dem Mond. »Warum denn das, um alles in der Welt?«
»Nun, ich fürchte, das ist ein Geheimnis, das ich nicht preisgeben kann«, erklärte Marcus fest. »Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen, Charlie, aber ich muß dir sagen, daß es eine Sache ausschließlich zwischen Judith und mir ist. Ich will dich nicht vor den Kopf stoßen oder auch nur im geringsten schroff zu dir sein, doch ich denke, dies hier geht dich nichts an.«
Charlie spießte einen gegrillten Champignon von der Platte auf. »Aber es geht ihr gut?«
»Ja, Charlie, es geht ihr ausgezeichnet.« Marcus lächelte belustigt, während er dabei zuschaute, wie sein Mündel gedankenlos und ohne es zu merken ein beträchtliches Frühstück verzehrte.
»Oh... na, dann ist es ja gut.« Charlie stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Ich wollte nicht spionieren, aber... du weißt ja, wie es mit Judith ist... ein Mann kommt nicht umhin, sich Sorgen um sie zu machen.«
Marcus nickte. »Ja, Charlie, ich weiß genau, wie es ist. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe noch verschiedenes zu erledigen. Du kannst inzwischen in Ruhe zu Ende frühstücken.«
»Oh, ich will kein Frühstück«, wehrte Charlie ab. »Ich habe schon gefrühstückt, bevor ich hierhergekommen bin.«
»Tatsächlich? Wie konnte ich nur etwas anderes denken?« Lachend legte er Charlie einen Arm um die Schultern und drückte ihn flüchtig an sich.
Kurz darauf eilte Marcus aus dem Haus und stieg in die wartende Kutsche mit dem aufgemalten Familienwappen der Carringtons zu beiden Seiten.
Tom kletterte auf den Bock neben den Kutscher und wies ihm den Weg durch die engen Straßen nach Cambridge Gardens, Kensington.
Marcus stieg aus und blickte sich einen Moment in der ruhigen halbmondförmig verlaufenden Straße um, bevor er zu Judiths Versteck hinaufschaute. Ein ordentliches,
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