Bleib ungezaehmt mein Herz
Liebe.
Keiner von ihnen ahnte etwas von der Bedrohung, die über ihrem Glück schwebte. Die Bedrohung nahm konkrete Formen an in einem der Schlafzimmer eines hohen Hauses, das auf die Themse hinausblickte. Die Fensterflügel klapperten unter dem stürmischen Winterwind, der vom Fluß herüberblies, und das Feuer im Kamin flackerte auf, als ein scharfer Luftzug durch winzige Risse in den Rahmen drang.
Agnes hüllte sich fest in ein Kaschmirtuch, als sie aus dem Bett stieg, ihr Körper träge und matt von sinnlicher Befriedigung trotz der Kälte im Raum. Sie ging zum Feuer und beugte sich vor, um ihre Hände zu wärmen.
»Ich schwöre, dieses verflixte Mädchen sieht und hört nur das, was Sebastian sagt oder tut«, murmelte sie, als wäre ihre Unterhaltung nicht von einem Zwischenspiel der Leidenschaft unterbrochen worden. »Wie oft hast du ihr
heute nachmittag Komplimente über ihren Hut gemacht, bevor sie dich überhaupt gehört hat, geschweige denn geantwortet?«
»Mindestens sechsmal«, erwiderte Gracemere. Er klappte eine kostbare Schnupftabaksdose aus Porzellan auf. »Gib mir dein Handgelenk.«
Lächelnd richtete Agnes sich auf und streckte ihren Arm aus, mit dem Handgelenk nach oben. Der Earl legte eine Prise Schnupftabak genau auf die Stelle, wo ihr Puls klopfte, hob ihr Handgelenk an seine Nase und atmete den Tabak ein. Seine Lippen streiften leicht über ihre Haut, dann ließ er Agnes' Hand fallen und kehrte wieder zum Thema zurück.
»Harriet läßt sich eindeutig nicht betören und gewinnen, deshalb muß sie genommen werden.«
»Wann?« Agnes befeuchtete ihre Lippen. »Du kannst nicht warten, bis Sebastian ihr einen Antrag gemacht hat.«
»Nur zu wahr. Ich werde warten, bis ich Sebastian so weit wie möglich ausgenommen habe - was seine Chancen bei den Moretons ohnehin ruinieren dürfte. Und dann werden wir handeln.« Er preßte die Lippen zusammen, bis sein Mund nur noch ein fleischiger Schlitz in seinem hageren Gesicht war.
»Ich zweifle nicht an dir, Bernard.« Agnes berührte seinen Mund mit der Fingerspitze. »Nicht eine Minute.«
Er packte erneut ihr Handgelenk und saugte ihren Finger in seinen Mund hinein. Seine Zähne bissen zu, und er starrte in Agnes' Augen, beobachtete, wie der Schmerz sich ausbreitete und Erregung unter der trotzigen Herausforderung aufflammte, den Schmerz zu ertragen. Agnes lachte und machte keinerlei Anstrengung, ihren Finger zu befreien. Sie lachte, ließ den Kopf zurückfallen und entblößte ihre weiße Kehle.
Gracemere ließ ihr Handgelenk los und umfaßte ihren Hals mit beiden Händen. »Wir verdienen einander wirklich, meine liebe Agnes.«
»O ja«, flüsterte sie.
Es dauerte eine ganze Weile, bevor sie wieder sprach. »Jetzt, wo Judith und Carrington nicht in der Stadt sind, muß dir doch ein gewisses Maß an Spaß und Unterhaltung fehlen.«
Gracemere grinste. »Meine Pläne für ihre Rückkehr stehen bereits fest. Ich werde dich vielleicht als Nachrichtenüberbringerin brauchen, meine Liebe.«
»Nachrichten? An wen?«
»Nun, an Carrington natürlich.« Ein hinterhältiges Lächeln spielte um seine dünnen Lippen. »Es hat keinen Sinn, seine Frau zu kompromittieren, wenn er nichts davon weiß.«
»Auf gar keinen Fall«, stimmte Agnes zu. »Ich werde ihm die Nachricht von befleckter Tugend mit absoluter Feinfühligkeit und dem größten Vergnügen überbringen.«
»Ich dachte mir schon, daß dir diese Rolle gefallen würde, meine Liebe.«
Judith drückte sich in eine dunkle Ecke des Wintergartens. Ihr Herz klopfte heftig vor Erregung und Erwartung, ihre Handflächen waren feucht, und auf ihrer Stirn perlten Schweißtropfen von den Anstrengungen der Verfolgungsjagd und der schwülen Treibhausatmosphäre. Die Luft war erfüllt vom süßen, exotischen Duft der Orchideen, Rosen und Jasminblüten. Das kuppelförmige Glasdach über ihr enthüllte den Nachthimmel, eine schwarze Unendlichkeit, in der nur die Sterne und die blasse Sichel des Neumonds einen Schimmer von Licht verbreiteten.
Judith hatte die Wohnzimmertür geschlossen, die in den Wintergarten führte, und die schweren Samtvorhänge waren zurückgeschwungen und verhinderten, daß Licht vom Haus hereindrang. Sie strengte ihre Ohren an, um zu hören, wie die Tür aufging, wie Schritte auf den glatten Pflastersteinen zwischen den Reihen mit Sträuchern und Blumen tappten. Ob Marcus erraten würde, wo sie sich versteckte? Es war eigentlich ein klassischer Ort für Versteckspiele. Aber es war ja
Weitere Kostenlose Bücher