Bleib ungezaehmt mein Herz
wenige Minuten später und schloß die Doppeltür hinter sich. »Quatre Bras?« fragte er.
»Sie hatten verdammt recht, Marcus. Boneys Linke ist nach Norden abgeschwenkt. Der Prinz von Orange läßt ihn bei Quatre Bras aufhalten, aber Napoleon bereitet sich darauf vor, den Angriff zu eröffnen.«
»Und mit der Rechten wird er gleichzeitig die Preußen bei Ligny angreifen«, fügte Marcus hinzu.
»Ligny im Osten und Quatre Bras im Westen«, stimmte Wellington zu und beugte sich über seine Karte. »Lösen Sie allgemeine Mobilmachung aus. Wir werden bei Quatre Bras in Stellung gehen.«
Draußen vor dem kleinen Salon war der Ballsaal in heller Aufregung. Die Musiker spielten zwar weiter, aber es gab nur noch wenige Tänzer, während sich überall Menschen zusammendrängten und die Offiziere diskret verschwanden. Judith war auf der Suche nach Sebastian, als Charlie auf sie zutrat. Seine Miene strahlte Erregung aus.
»Judith, ich muß gehen und mich meinem Regiment anschließen.«
»Was ist passiert?«
»Allgemeine Mobilmachung. Wir rücken nach Quatre Bras aus.«
Er konnte seinen Eifer nicht verbergen, und Judith fühlte plötzlich große Zuneigung für ihn, gefolgt von Besorgnis. All die vielen jungen Männer, die nur allzu bereit waren, einen blutigen Tod auf dem Schlachtfeld zu finden!
»Meine erste Schlacht«, sagte er. »
»Ja, und du wirst so tapfer wie ein Löwe kämpfen«, fügte sie hinzu und zwang sich mit großer Anstrengung zu lächeln. »Komm, ich begleite dich hinaus.«
Sie ging mit Charlie die Treppe hinunter. Männer in Uniform liefen in der Halle umher; Befehle wurden hastig und diskret erteilt. Ganze Gruppen von Soldaten machten sich zum Abmarsch bereit und versuchten so zu tun, als sei nichts Außergewöhnliches passiert, als sie durch die breiten Doppeltüren marschierten, die zu der Steintreppe vor dem Haus führten. Draußen war es jedoch mit der Diskretion vorbei, und sie stürmten davon, riefen nach Kutschen und brüllten Befehle und Informationen.
Judith stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte Charlie leicht auf die Mundwinkel. »Paß auf dich auf.«
»O ja, das werde ich natürlich.« Er konnte es kaum noch erwarten wegzukommen, sein Blick suchte ungeduldig die Halle ab. »Oh, da ist Larson. Er ist in meiner Kompanie.«
»Dann ab mit dir.« Sie gab ihm einen liebevollen kleinen Schubs. Charlie lächelte sie reumütig und leicht schuldbewußt an, dann beugte er den Kopf und küßte sie hastig.
»Ich finde dich wirklich wundervoll, Judith.«
»Natürlich tust du das«, erwiderte sie. »Und jetzt los mit dir. Du hast im Augenblick wichtigere Dinge im Kopf als Tändelei.«
»Ja, ja, das ist vollkommen richtig.«
Sie winkte ihm nach, als er in die Menge zurückwich. Plötzlich lächelte er, warf ihr eine Kußhand zu, dann wandte er sich ab und tauchte im Gewühl unter, laut nach seinem Freund rufend.
Judith fühlte Schmerz in sich aufsteigen. Sie drehte sich hastig um und ging die Treppe hinauf. Sebastian suchte schon nach ihr. Er trug ihren Umhang über dem Arm, seinen eigenen hatte er sich bereits um die Schultern gelegt. »Ich muß dich nach Hause bringen, Judith.«
Sie schaute sich in den sich rasch leerenden Salons um. »Ja, es hat wohl keinen Zweck, noch zu bleiben. Ob-wohl wir vielleicht noch ein paar Neuigkeiten hören würden.«
»Hier wird es keine weiteren Neuigkeiten mehr zu erfahren geben.« Ihr Bruder legte ihr das Cape aus Goldlame um die Schultern. »Wellington und Clausewitz sind mit ihrem Gefolge gegangen. Sie werden innerhalb der nächsten halben Stunde nach Quatre Bras aufbrechen.« Er schob Judith ungeduldig die Treppe hinunter.
»Warum hast du es so eilig, Sebastian?«
»Ach, nun komm schon, Ju.« Er blickte sich aufgeregt um. »Ich will nichts verpassen.«
»Verpassen? Was denn?«
»Die Schlacht«, sagte er und drängte sie weiter die Stufen hinunter.
»Du gehst?« Aber Judith wußte die Antwort. Es wäre unmöglich für Sebastian, untätig in Brüssel zu warten, während nur wenige Meilen vor den Toren der Stadt das Schicksal Europas entschieden wurde.
Er lächelte sie genauso reumütig und leicht schuldbewußt an, wie Charlie es getan hatte. »Ich würde viel darum geben, wenn ich selbst gegen Boney kämpfen könnte. Aber da ich das nicht kann, muß ich wenigstens dort sein.«
Judith machte keinen Versuch, ihn zurückzuhalten. Wenn ihr Leben anders verlaufen wäre - so, wie es eigentlich hätte sein sollen -, hätte das Geburtsrecht ihres
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