Bleib ungezaehmt mein Herz
»Ich komme zurück und hole dich. Bleib hier und warte auf mich.«
»Bitte geh noch nicht fort.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm.
Sein Ausdruck wurde weich. »Hab keine Angst.«
»Das ist es nicht... ich habe keine Angst, nicht um mich selbst... aber um dich«, erwiderte sie zögernd. »Ich möchte dort sein, wo du bist.«
»Das ist nicht möglich, mein Luchs. Das weißt du.« Er zeichnete sanft die Umrisse ihres Kinns mit der Fingerspitze nach.
»Beantworte mir eine Frage.« Judith wußte nicht, warum sie ihm ausgerechnet jetzt diese Frage stellte; es war kaum der passende Ort oder die geeignete Zeit für die Erörterung eines so ernsten Themas. Aber nach der Glut der Leidenschaft dieser Nacht und in ihrer momentanen warmen Übereinstimmung drängte alles in ihr verzweifelt danach, seine Antwort zu erfahren.
Er wartete.
»Warum hast du dich heute nacht aus mir zurückgezogen?« Sie blickte ihn unverwandt an, wartete schweigend auf seine Antwort. Als sie in der Nacht instinktiv versucht hatte, ihn in sich zu halten und er sich ihrem Versuch widersetzte, war sie ganz in der Ekstase ihres Liebesspiels versunken gewesen und hatte nur ein sehr flüchtiges Verlustgefühl empfunden. Jetzt, im klaren, kalten Tageslicht, wußte sie, daß sie selbst noch nicht für eine Schwangerschaft bereit war; erst mußte sie mit Gracemere abrechnen, bevor sie andere Pflichten auf sich nehmen konnte - und ihren Ehemann näher kennenIernen, bevor er der Vater ihres Kindes sein konnte. Ob Marcus das gleiche fühlte, was sie, Judith, betraf? Ob er ähnlich über ihre Situation dachte? Oder war es etwas ganz anderes?
Marcus antwortete nicht sofort. Er stand da und blickte auf sie hinunter, durchbohrte sie mit seinen schwarzen Augen, beinahe als wollte er in ihre Seele hineinschauen. Judith schauderte, plötzlich überzeugt, sie befände sich am Rande eines Abgrunds, in dem etwas Dunkles, Bedrohliches lauerte.
Dann wandte Marcus sich ab und ging zur Tür. Er blieb kurz stehen, die Hand auf dem Türgriff, drehte sich jedoch nicht nach ihr um, als er sagte: »Ich werde deine Frage mit einer Gegenfrage beantworten. Wußtest du, wer gestern im Schankraum war, bevor du so dramatisch aufgetreten bist?«
Schockiertes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, und als Judith keine Antwort gab, öffnete er ruhig die Tür und ging.
Er glaubte, sie hätte ihn ins Netz gelockt! Kalte Übelkeit stieg in ihrer Kehle auf. Natürlich würde er keine Kinder wollen von einer Frau, die zu einem so berechnenden Täuschungsmanöver fähig war. Wie mußte er sie hassen! Aber es waren ein Haß und eine Verachtung, die sich nicht auf ihren Körper erstreckten. Für Marcus war Judith dem Namen nach seine Frau, aber in Körper und Seele seine Hure.
Sie fühlte einen bitteren Geschmack im Mund, und ihr Kopf begann zu hämmern. Warum hatte sie es nicht abgestritten? Warum hatte sie den Verdacht nicht aufs heftigste zurückgewiesen, ihre Unschuld beteuert, wütend dagegen protestiert, daß er überhaupt so etwas denken konnte? Aber Judith wußte, warum sie schweigend dagesessen hatte. Weil Marcus im Grunde recht hatte. Er glaubte, sie hätte ihn wegen seines Vermögens und seiner gesellschaftlichen Stellung geheiratet, und so war es ja auch. Was spielte es schon für eine Rolle, daß sie nicht gewußt hatte, wer im Schankraum war, als sie hereinschlenderte? Sie hatte die Situation trotzdem zu ihrem Vorteil ausgenutzt... die Situation und Marcus' ausgeprägtes Ehrgefühl. Warum sollte er jemals etwas anderes in ihr sehen als eine gierige, betrügerische Goldgräberin?
Fröstelnd und mit einem Gefühl der Übelkeit schlüpfte Judith in ihr zerknittertes, fleckiges Reitkostüm. Der Ring an ihrem Finger fing einen Sonnenstrahl ein, und das Gold glänzte matt. Wenn sie und Sebastian erst einmal getan hatten, was getan werden mußte - wenn Sebastian wieder im Besitz seiner Geburtsrechte war, ihr Vater gerächt und Gracemere vernichtet -, dann würde sie Marcus sagen, daß sie dem Gesetz nach nicht aneinander gebunden waren. Sie würde ihn freigeben. Aber bis dahin mußte sie die Maskerade fortsetzen. »Und was gibt es sonst noch Neues?« fragte sie sich selbst mit grimmigem Zynismus. Ihr ganzes Leben war doch eine einzige Maskerade.
Draußen vor der Tür blickte Judith sich unschlüssig um, überlegte, wohin sie gehen sollte. Der Gefechtslärm war ohrenbetäubend und erschreckend, das Aufeinanderprallen von Stahl, das Donnern der Kanonen, der scharfe Knall
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