Bleib ungezaehmt mein Herz
anzusehen. »Marcus... könntest du morgen vielleicht ein paar Minuten für mich erübrigen... in einer dringenden Angelegenheit?«
»Ich bin immer für dich da, Charlie«, erwiderte Marcus gelassen. »Sagen wir, gegen Mittag? Paßt dir das?«
»Ja... ja, das wäre gut.« Zwei brennendrote Flecken erschienen auf Charlies Wangenknochen. »Dann bis morgen ... äh... gute Nacht, Judith.« Er küßte sie hastig auf die Wange. Dann machte er kehrt und verschwand eilig im Salon.
»Verdammter junger Narr«, bemerkte Marcus ohne Gemütsbewegung.
»Warum, was ist passiert?«
»Steckt wieder mal bis zur Halskrause in Spielschulden. Höchstwahrscheinlich wird er mich morgen bitten, ihm das Geld vorzustrecken, damit er sie begleichen kann. Er weiß natürlich nicht, daß ich davon weiß.«
»Und wie kommt es, daß du davon weißt?«
Marcus blickte sie überrascht an. »Charlie ist mein Mündel, Judith. Es passiert nicht viel in seinem Leben, worüber ich nicht Bescheid wüßte. Ich habe schließlich die Verantwortung für ihn.«
»Und du nimmst deine Pflichten sehr ernst«, stellte sie nachdenklich fest. Marcus mochte ein strenger Vormund sein, aber er war auch ein fürsorglicher.
»Ja, das tue ich«, erwiderte er. »Vergiß das nur niemals, meine Liebe.«
»Autokrat«, warf sie über ihre Schulter zurück, war ihm aber zu wohlgesonnen, als daß sie ernsthaft Partei gegen ihn ergriffen hätte.
Es war fast Morgen, als Marcus nach anstrengendem Liebesspiel in sein eigenes Bett ging. Wenn wir weiterhin solchen Raubbau mit unseren Kräften treiben, werden wir einen Erholungsaufenthalt auf dem Lande brauchen, bevor die Saison auch nur zur Hälfte um ist, dachte er.
Er erwachte, als Cheveley die Vorhänge zurückzog und die Sonne strahlend zum Fenster hereinschien. Marcus warf die Bettdecke beiseite, stand auf und streckte sich. »Meinen Morgenrock, Cheveley.«
Der Kammerdiener hielt ihm den Brokatmantel hin. Marcus schlenderte in das Schlafzimmer seiner Frau, während er die Kordel in der Taille zuband. »Guten Morgen, mein Luchs.«
Judith saß im Bett, ihr kupferfarbenes Haar auf den aufgetürmten weißen Kissen ausgebreitet. Auf dem Nachttisch stand ein Tablett mit heißer Schokolade und süßen Brötchen, und ihre Knie verschwanden unter einem Berg säuberlich geschriebener Briefe.
»Guten Morgen, Marcus.« Sie lächelte ihm über den Rand ihrer Tasse hinweg zu, dachte, wie angenehm es war, in Frieden mit ihrem Ehemann zu leben.
»Du hast eine Menge Bewunderer, wie mir scheint.« Marcus beugte sich hinab und küßte ihre Nasenspitze. Er griff sich eine Handvoll Verehrerbriefe und ließ sie wieder auf das Bett herunterflattern. »Und ein Biedermeiersträußchen.« Das kleine Veilchengesteck in dem ziselierten silbernen Halter lag neben der Schokoladenkanne auf dem Tisch. Marcus blickte auf die beigefügte Karte, und seine Miene verfinsterte sich.
»Gracemere. Du mußt ja gestern abend einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben.«
Judith neigte den Kopf in vager Zustimmung. »Er schreibt auf jeden Fall sehr hübsche Karten. Und die Veilchen sind so entzückend.«
»Ich halte es nicht für richtig, wenn du solche Geschenke annimmst, Judith.«
Judith lehnte sich gegen die Kissen zurück und erinnerte sich zum ersten Mal wieder an die eigenartige Spannung zwischen den beiden Männern. »Im allgemeinen oder besonders in bezug auf Gracemere?«
Er zuckte die Achseln. »Spielt das eine Rolle?«
»Ich denke doch. Es ist völlig normal für eine Frau, derartige kleine Sympathiebekundungen zu erhalten.«
Marcus sagte nichts, sondern wandte sich zum Fenster um und blickte auf den Platz hinaus. Eine Gruppe von Kindern unter Aufsicht eines Kindermädchens spielte
Ball in der umzäunten Grünanlage in der Mitte des Platzes.
»Du magst Gracemere nicht, nicht wahr?« Judith hielt es für besser, die Angelegenheit ohne Umschweife zu klären.
»Nein, Judith, ich mag ihn nicht. Und du sollst wissen, daß ich den Mann unter keinen Umständen in meinem Haus haben will.«
»Darf ich fragen, warum?« Ihre Finger spielten nervös mit den Falten der Decke, während sie einen Ausweg aus diesem unerwarteten Wirrwarr zu finden versuchte.
»Fragen darfst du, aber eine Antwort kann ich dir nicht geben. Die Sache ist ganz einfach: Du darfst Gracemere nicht zu deinen Freunden zählen.« Seine Stimme klang gelassen, fast ausdruckslos, während er unverwandt weiter zu den Kindern auf dem Platz hinunterschaute. Doch er sah sie nicht
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