Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
trockenen Fliesen zu robben, doch sie biss die Zähne zusammen und gab nicht auf.
Bei dem Lichtreflex handelte es sich um einen Abfluss.
Ein Loch im Boden, circa zwanzig Mal zwanzig Zentimeter groß, durch das das Wasser des Schwimmbeckens abgelassen werden konnte. Das Loch war mit einem Gitter aus Edelstahl abgedeckt.
Miriam lag mit dem Gesicht unmittelbar daneben. Sie hob den Kopf, schaute in den dunklen Abfluss und fragte sich, wie ihr das helfen könnte.
Vielleicht wenn sie …
Schnell drehte sie sich um, brachte ihre auf dem Rücken gefesselten Hände in die Nähe des Abflusses, steckte zwei Finger in das Gitter und zog daran. Es löste sich beim vierten Versuch. Sie ließ es neben den Abfluss fallen und drehte sich wieder um.
Der Rahmen im Boden, in dem das Gitter gelegen hatte, hatte Kanten aus Metall. Die waren nicht scharf, nicht einmal annähernd, aber immerhin waren es gerade Kanten, an denen sie die Kabelbinder hin- und herbewegen konnte. Wenn sie schnell und lange genug scheuerte, müsste die Kombination aus Reibungshitze und gerader Kante den Kunststoff doch durchtrennen.
Miriam überlegte nicht länger. Sie drehte sich auf den Rücken, brachte sich in eine günstige Position und begann zu reiben.
Nele Karminter brachte Alexander Seitz abermals ins Polizeipräsidium. Der Privatdetektiv war in sich gekehrt und stumm, seitdem er auf dem Dachboden in der Katzengasse 11 den Leichnam anhand der Reste eines Tattoos als seine Freundin Jördis Kettelhake identifiziert hatte.
Während der Fahrt rief Nele Dag Hendrik an und unterrichtete ihn über die Wendung in dem Fall. Sie bat ihn, an einer erneuten Befragung von Seitz teilzunehmen und auch Dr. Sternberg hinzuzuziehen.
Nele wusste nicht, was in dem Mann vorging. Als er in der Katzengasse angekommen war, war er rasend vor Wut gewesen, doch das hatte sich auf dem Dachboden rasch geändert. Die Spurentechniker waren für einen Moment beiseitegetreten, und Seitz war erstarrt.
»Das Tattoo«, hatte er flüsternd gesagt. »Das ist nicht Miriam Singer. Es ist Jördis.«
Dann war er vor dem Schaukelstuhl auf die Knie gefallen. Er hatte seine Hände auf die Füße des Leichnams gelegt, den einzigen unversehrten Bereich des Körpers, den Kopf gesenkt, hatte ihren Namen ausgesprochen und war für ein paar Minuten in dieser Stellung eingefroren.
Nele, die hinter ihm gestanden hatte, konnte nicht sagen, ob er geweint hatte. Wenn, dann waren es stille Tränen gewesen, denn sein Oberkörper hatte nicht einmal gezittert. Als sie sich schon überlegt hatte, wie sie ihn von seiner Freundin wegbekommen sollte, war er plötzlich ruckartig aufgestanden und wortlos an ihr vorbei die Treppe hinuntergelaufen. Sie war ihm in den schmutzigen Innenhof gefolgt, wo er sich mit beiden Händen gegen eine Mauer gelehnt und den Kopf tief zwischen die Schultern hatte sinken lassen.
Aber nur kurz.
Dann hatte er sich zu ihr umgedreht und sie aus einem versteinerten Gesicht angesehen.
»Ich will dabei sein«, hatte er mit rauer Stimme gesagt.
Mehr war nicht nötig gewesen. Keine Erklärung, keine Warnung, keine Drohung. Nele hatte auch so verstanden, was Seitz meinte. Sie konnte ihn von den weiteren Ermittlungen ausschließen, zu seinem eigenen Schutz auch inhaftieren, aber dann, das spürte sie, würde er durchdrehen. Obwohl sie sich vor ein paar Stunden noch über ihn aufgeregt hatte, empfand sie in diesem Moment Mitleid. Sie hatte keine Ahnung, was zwischen ihm und Jördis Kettelhake gewesen war, ob es Liebe gewesen war, aber Nele wusste noch allzu gut, wie sie sich selbst gefühlt hatte, als Anou damals von Karel Murach entführt worden war und sie sie schon tot geglaubt hatte.
Wenn man es gewohnt war zu handeln und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, konnte in einem solchen Moment nichts und niemand einen davon abhalten. Handschellen und Stahltüren waren dann Folter und würden einen gebrochenen Menschen zurücklassen.
Nele würde ihn einbinden. Aber nur soweit, wie sie es verantworten konnte. Sie mussten ihn sowieso erneut vernehmen. Vielleicht wusste Seitz etwas, was sie auf die Spur von Horst Schön bringen würde, denn der hatte immer noch Miriam Singer in seiner Gewalt. Und auch wenn Nele immer weniger daran glaubte, bestand doch noch der Hauch einer Chance, diese lebend zu finden.
Anou war in der Katzengasse geblieben, um dort die Durchsuchung zu leiten. Sälzle war mit einem kleinen Team zu Seitz’ Hütte unterwegs. Eckert war noch damit beschäftigt, die
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