Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
Hamburger Firma zu überprüfen, die die Mastställe gereinigt hatte. Ihr kleines Team war weit verstreut im Einsatz, und es lag viel mehr Arbeit an, als sie bewältigen konnten. Aber falls sie herausfinden sollten, wo Horst Schön sich aufhielt, würde Nele alle zur Verfügung stehenden Kräfte zusammenziehen. Die Fahndung nach dem schwarzen Astra lief, ein digitalisiertes Bild von Schön war im Umlauf. Gleich im Präsidium würde sie Dag darum bitten, die Presse einzubeziehen. Die lokalen Sender konnten das Bild noch heute verbreiten, ebenso die Radiosender, und die Tageszeitungen würden sie auch noch erreichen, bevor die in Druck gingen.
Nele fühlte sich unwohl, weil Seitz kein Wort sagte, einfach nur da hockte und mit starrem Blick aus dem Seitenfenster sah. Wenige Minuten, bevor sie das Präsidium erreichten, rang sie sich dazu durch, ihn anzusprechen.
»Es tut mir wirklich leid«, wiederholte sie, was sie schon auf dem Hof in der Katzengasse gesagt hatte.
Er nickte, ohne sie anzusehen.
»Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen.«
Jetzt wandte er sich doch zu ihr um. »Darf ich nicht?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Ich bin der Einzige, der sich Vorwürfe machen muss, und das tue ich auch. Jördis ist tot, weil ich zu dumm gewesen bin … weil ich nicht erkannt habe, was für ein Typ Mensch Horst Schön ist. Ich habe ihn für jemanden gehalten, der sich nur an schwache Frauen herantraut, und das war Jördis nicht. Jördis war die stärkste Frau, die ich je kennen gelernt habe. Also sagen Sie mir bitte nicht, ich dürfe mir keine Vorwürfe machen.«
Seine Stimme klang rau und zitterte vor mühsam unterdrückter Wut.
Nele musste an das Seminar denken. Psychopathen, so hatte Dr. Sternberg es formuliert, sind wahre Meister darin, sich zu verstellen. Sie sind die denkbar geschicktesten Schauspieler, und um sie zu durchschauen, ihr Spiel zu durchschauen, bedarf es einer großen Erfahrung.
Müsste Seitz nicht erfahren genug sein?, fragte sich Nele, und bog in die Zufahrt zur Tiefgarage des Präsidiums ein.
Sie sprachen nicht, während sie mit dem Fahrstuhl nach oben fuhren, den langen Gang nach rechts hinuntergingen und schließlich die Sokozentrale betraten.
Dag Hendrik und Dr. Sternberg waren schon da. Alle anderen Mitarbeiter waren hinausgeschickt worden.
Seitz ließ sich auf einen Stuhl fallen und presste seine Hände seitlich an den Kopf.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Nele.
Er schüttelte nur den Kopf.
Sie nickte Dag Hendrik und Dr. Sternberg zu, und sie setzten sich Seitz gegenüber an den Tisch.
»Alexander«, begann Dag. »Ich möchte dir sagen …«
»Erspar mir diesen Scheiß«, sagte Seitz und hob langsam den Kopf. »Ich will nicht hier herumsitzen und Floskeln austauschen. Ich will diesen Mistkerl schnappen.«
»Du bist kein Poli …«
Nele schnitt ihrem Chef mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. »Das wollen wir alle, Herr Seitz. Aber wir werden es nur schaffen, wenn wir zusammenarbeiten. Sie müssen uns jetzt alles, aber auch wirklich alles sagen, was Sie über Horst Schön wissen. Wie sind Sie überhaupt auf ihn aufmerksam geworden?«
Seitz berichtete ihnen vom Fund der Visitenkarte in einem Kleidungsstück in Daniela Gersteins Schrank. Er erzählte ihnen auch von der Falle, in die er Horst Schön mit Hilfe seiner Freundin gelockt hatte, und davon, dass Schön alias Freedomwriter über einen Chatroom Kontakt zu Daniela gehabt hatte.
Als er fertig war, klingelte Neles Handy.
Anou war dran.
Aus dem Hintergrund hörte Nele Fahrgeräusche.
»Das Haus in der Katzengasse ist nur sein Zweitwohnsitz«, sagte Anou atemlos. »Horst Schön ist außerdem noch in der Waldstraße 35 gemeldet, das liegt am Stadtrand. Ich bin schon unterwegs.«
In Neles Kopf löste die unerwartete Information ein Déjà-vu aus. Schon wieder handelte Anou eigenmächtig. Schon wieder zog sie allein los.
»Warte auf mich«, befahl Nele. »Ich fahre sofort los.«
»Das ist Quatsch«, hörte sie Anou widersprechen. »Du bist viel zu weit weg, und ich bin in ein paar Minuten da.«
»Du sollst aber nicht allein …«, begann Nele und sah zu Dag auf, der sie gespannt ansah.
»Bin ich doch nicht«, unterbrach Anou sie. »Ich hab die Jungs mitgenommen, die sowieso vor Ort waren. Das MEK anzufordern hätte viel zu lang gedauert. Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.«
Damit beendete Anou das Gespräch.
Nele fühlte sich wie überfahren. Sie spürte die Blicke der anderen, brauchte aber noch
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