Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
die hatte das Gespräch schon beendet.
Nele legte ihr Handy auf den Tisch, atmete tief durch und sah dann wieder zu Dr. Sternberg auf. »Sie handelt schon wieder eigenmächtig. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Eigentlich müsste ich ihr als ihre Vorgesetzte eine Rüge erteilen.«
»Aber wegen ihrer Beziehung stecken Sie natürlich in einer Zwickmühle«, folgerte die Psychologin.
Nele nickte, denn genau so war es. Jede andere Mitarbeiterin oder jeden anderen Mitarbeiter hätte sie längst zusammengestaucht, und das nicht zu knapp. Nicht zuletzt nach Tim Sieberts Tod galten strikte Anweisungen bezüglich der Arbeit im Team. Klar, sie hatten ein Personalproblem, die vielen Kürzungen und Krankheitsfälle hatten auch die Reserven angekratzt, aber das durfte trotzdem nicht zu Lasten der Sicherheit gehen.
»Leider ja«, sagte Nele. »Es ist schwer.«
Frau Sternberg schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Vielleicht gibt es ja noch einen anderen Weg.«
Anouschka Rossberg nahm das Handy aus der Fahrzeughalterung und steckte es in die Innentasche ihrer braunen Lederjacke. Jetzt bereute sie es, Nele angerufen zu haben. Diese ständigen Vorhaltungen und Ermahnungen gingen ihr zunehmend auf die Nerven. Sie war schließlich kein kleines Kind, das eine Aufsichtsperson benötigte. Anou wusste, woher diese übertriebene Fürsorge rührte, und sie hatte Nele oft genug gesagt, dass sie die Sache längst verdaut hatte. Mein Gott, der Fall lag ein Jahr zurück. Sie hatte wirklich Zeit genug gehabt, diese Scheiße zu verarbeiten.
Anou sah durch die Windschutzscheibe ihres Audi A3, den sie auch als Dienstwagen benutzte. Ihr Blick ging hinüber zu drei flachen, langgestreckten Gebäuden, die eine U-Form bildeten. Dazwischen lag eine geschotterte freie Fläche. Die Gebäude waren einstöckig, aus rotem Klinker gemauert, fensterlos, mit niedrigen Dächern aus schwarzen, gewellten Platten, aus denen überall Lüftungsrohre emporwuchsen wie Pilze aus dunklem Waldboden. Rechts neben dem ersten Gebäude stand auf metallenen Stelzen ein zehn Meter hoher, zylindrischer Futterspeicher. Im Hintergrund drehten sich die schlanken weißen Flügel mehrerer Windkraftanlagen. In dem fahlen Licht des frühen Tages und unter den tief hängenden, grauen Wolken wirkte diese Mastanlage wie die Kulisse eines Gruselfilms.
Nach ihrem Gespräch mit der Frau, die Miriam Singer von der Straße aufgelesen hatte, war Anou von Bruchhausen ausgehend eine Weile durch die Gegend gefahren, hatte aus der Ferne den bewaldeten Flussgraben gesehen, und von dort aus war es auch nicht mehr weit gewesen bis zu dieser abseits gelegenen Anlage.
Alles stimmte mit der Skizze überein, die Miriam Singer im Krankenhaus angefertigt hatte.
Anou glaubte nicht daran, dass die junge Frau Opfer einer spontanen Entführung geworden war. Zu viel sprach dagegen.
Ihr Schwächeanfall deutete auf eine Betäubung hin, ein Umstand, dem sie dringend nachgehen mussten. Denn ein Täter, der derart planvoll handelte, würde es irgendwann, wenn der Schock dieses missglückten Versuchs abgeklungen war, vermutlich noch einmal versuchen. Deshalb hatte sie im Krankenhaus Druck gemacht, eine erneute Blutentnahme und die entsprechende Laboruntersuchung organisiert. Übers Wochenende würde sich da nicht viel tun, aber das wäre in ihrem eigenen Labor nicht viel anders.
Anou überprüfte ihre Dienstwaffe, steckte sie gesichert zurück ins Halfter und stieg dann aus.
Die Anlage befand sich auf einer Anhöhe mit Sicht über den bewaldeten Graben hinweg, in den sich Miriam Singer geflüchtet hatte. Bei dem heutigen schlechten Wetter und der diesigen Luft konnte Anou nicht bis nach Bruchhausen sehen, sich aber vorstellen, dass die Lichter des Ortes in klarer Nacht auch hier oben noch auszumachen waren.
Kalter Wind blies ihr ins Gesicht. Sie zog den Reißverschluss der ungefütterten Jacke hoch und schlug die Autotür zu. Bis auf das Rauschen des starken Windes war es still. Sturmtief Xynthia war im Anmarsch und sollte laut den Wetterfröschen morgen mit Orkan und Schnee über Deutschland herfallen. Anou war gespannt darauf. Sie mochte Wetterextreme.
Im Schotter des Hofes waren deutlich Reifenabdrücke zu sehen, die bis zwischen die Gebäude führten. Allerdings würden sich davon keine Abdrücke nehmen lassen, dafür war der Untergrund ungeeignet.
Anou bewegte sich aufmerksam mit kleinen Schritten vorwärts. Sie beobachtete jedes mögliche Versteck, obwohl sie nicht davon ausging, hier jemanden
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