Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
deiner Angst … Es ging auch viel zu schnell, als dass du wirklich einen Blick hättest hineinwerfen können … Nein, nein, nein, da ist nichts gewesen auf dem Tapetentisch …
Es funktionierte nicht. Denn all ihr Leugnen wurde zunichtegemacht von der zusätzlichen Angst, die das Weglassen der Frage und die blutende Wunde an ihrem Kopf ausgelöst hatten. Es funktionierte nicht, weil er sie in der Badewanne beinahe getötet hätte, weil es ihm egal gewesen war, wie sie danach aussah. Bislang hatte er stets darauf geachtet, sie so zu schlagen, dass keine Spuren zurückblieben.
Etwas hatte sich geändert.
Aber was? Was war geschehen mit ihm in der Nacht zuvor?
Nein. Die Frage war falsch.
Was war geschehen mit ihm in den letzten Jahren?
Nicola schweifte weit in die Vergangenheit ab. Sie hatte ihn kennen gelernt, da war sie gerade zwanzig Jahre alt geworden und steckte in der Ausbildung zur Krankenschwester. Sie lebte noch bei ihren Eltern, anders war es finanziell nicht möglich gewesen, auch wenn sie sich damals schon lange nicht mehr wohlgefühlt hatte dort. Es lag an ihrem Vater. So viel aufgestaute Wut, so viel Hass auf die ganze Welt. Woher war das nur gekommen? Warum hatte es ausgerechnet in ihrem Elternhaus keine Liebe gegeben? Dunkel erinnerte Nicola sich an diese dauernde Anspannung, diese Vorsicht, mit der jeder durchs Leben gegangen war. So als tappe man nachts auf dem Weg zur Toilette auf Zehenspitzen über den Flur, ganz leise, damit einen niemand hörte. Nicola hatte versucht, unsichtbar zu werden, und es war ihr gut gelungen. So gut, dass sie es auch für den Rest der Welt gewesen war. Ein unsichtbares, unscheinbares Mädchen, für das sich kein Junge interessierte. Bis zu dem Tag, als er mit einer gebrochenen Nase und einem gebrochenen Finger von einer Prügelei auf ihre Station gekommen war. Zu dem Zeitpunkt war es für Nicola schon völlig normal, auch in der Arbeit die meiste Zeit unsichtbar zu sein, doch er hatte sie sofort gesehen. Gleich beim ersten Mal. Nicola konnte sich gut an seinen Blick, sein Lächeln und seine Worte erinnern.
Bei so einer hübschen Schwester ertrage ich die Schmerzen gern.
Sein Lächeln!
Noch nie hatte sie Augen gesehen, die so intensiv mitlächeln konnten, und sich sofort darin verliebt. Darin, und in seine Fähigkeit, sie stets mit den richtigen Worten zu umgarnen. Dabei war er ein launischer Patient gewesen, der viel Zeit beanspruchte und dauernd auf seine Verletzungen und seine Schmerzen aufmerksam machte.
Und dann, nachdem er entlassen worden war, hatte er etwas getan, wofür sie ihm – zumindest dachte sie das damals – bis in alle Zeiten dankbar sein würde: Er hatte ihrem Vater Paroli geboten. Ihr Vater war gegen diese Beziehung gewesen, ihre Mutter deswegen natürlich auch, doch alle Feindschaft und alle Vehemenz waren an ihm abgeprallt, hatten ihn, das erkannte Nicola erst viel später, nur noch mehr angestachelt. Es war ein Kampf gewesen, den er gewonnen hatte. Er hatte alle Kämpfe gewonnen.
Bis auf einen, und das würde auch so bleiben.
Lag es vielleicht daran? Hatte er sich deswegen so verändert? War es am Ende ihre eigene Schuld? Das alles? Der Tapetentisch?
Nicola spürte etwas Warmes an ihrer Stirn. Es rann langsam durch ihren Augenwinkel, dann seitlich die Wange hinab, löste sich schließlich von ihrer Haut und tropfte auf die weiße Tischplatte.
Ein Tropfen Blut.
Sie starrte ihn an.
In seinem intensiven Rot und der perfekten runden Form war er auf der weißen Tischplatte von makelloser Schönheit.
Der nächste fiel hinab, und erst jetzt erwachte Nicola aus ihrer Starre, hob die Hand und betastete den notdürftigen Verband über ihrem rechten Auge. Er war blutdurchtränkt. Die Wunde hatte sich nicht geschlossen, sie musste genäht werden.
Sie fällte keine bewusste Entscheidung. Sie stand einfach auf, ging ins Bad, erneuerte den Verband, zog sich an, nahm ihre Handtasche, den Wagenschlüssel und verließ das Haus.
Draußen wehte ihr ein eisiger Wind ins Gesicht.
Ihr Wagen stand in der seitlichen Parknische auf dem Hof. Sie stieg ein, startete den Motor und fuhr los. Nach einer halben Stunde erreichte sie das innerstädtische Zentralkrankenhaus und begab sich direkt in die Notfallambulanz. Dort war nicht viel los, trotzdem musste sie zunächst im Wartebereich Platz nehmen.
Die Hände um ihre Tasche gekrampft, den Blick auf den glänzenden Linoleumboden gerichtet, saß sie da und versuchte unsichtbar zu bleiben. Doch ein
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