Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
Mann zu trennen. Anou brachte sie ins Wohnzimmer, während Nele mit dem Mann auf dem Flur zurückblieb.
Er richtete seine Kleidung, bemühte sich um Ordnung und Anstand, wirkte dabei aber wie ein Ertrinkender auf einer langsam sinkenden Schiffsplanke. Nele befürchtete, dass er sich gleich bei ihr für das Verhalten seiner Frau entschuldigen würde, doch er schwieg. Gott sei Dank schwieg er.
»Wo können wir reden?«, fragte Nele. Jedes Mitgefühl war aus ihrer Stimme gewichen.
»Gehen wir in die Küche.«
Aus dem Wohnzimmer hörten sie Anous beschwichtigende Stimme und Elke Gersteins herzzerreißendes Heulen. Nachdem die Küchentür geschlossen war, wurde es erträglicher.
»Ich … Ich …«, begann Siegfried Gerstein.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und wich bis an die Wand zurück, die am weitesten von der Tür entfernt war. »Sie war so schwierig in letzter Zeit. Ich habe mich doch nicht absichtlich mit ihr gestritten, aber sie war so schwierig.«
Sein Blick war ein einziges Betteln.
Nele ging zu ihm, legte ihm einen Arm um die Schultern, führte ihn zum Tisch und drückte ihn auf einen Stuhl. Dann setzte sie sich ihm gegenüber. »Meine Kollegin ruft einen Arzt. Der wird Ihrer Frau ein Beruhigungsmittel verabreichen. Aber Sie müssen für Ihre Frau da sein in der nächsten Zeit. Haben Sie mich verstanden, Herr Gerstein?«
Er nickte, aber sein jetzt leerer Blick strafte ihn Lügen. Dieser Mann hatte gar nicht die Kraft, für andere da zu sein, nicht in einer solchen Situation. Mit krummem Rücken, schwer auf die Ellenbogen aufgestützt, saß er am Tisch und schlug die Hände vors Gesicht. Aber er weinte nicht, er versteckte sich dahinter.
Nele ließ ihm diesen Moment. Zwar spürte sie jede verrinnende Minute tonnenschwer auf sich lasten, aber in einer solchen Situation hatte es keinen Sinn, den Mann zu drängen. Sie musste schon froh sein, wenn er nicht auch noch zusammenbrach. Um das zu verhindern, stand sie auf, füllte an der Spüle ein Glas Wasser und stellte es vor ihn auf den Tisch.
»Trinken Sie. Bitte!«
Er ließ die Hände sinken. Seine Augen waren blutunterlaufen, so stark hatte er sie gerieben. Er starrte erst sie, dann das Glas an. Schließlich nahm er es und trank es in einem Zug leer.
»Herr Gerstein. Wer könnte Ihrer Tochter das angetan haben?«
Er umklammerte das Glas so fest, dass Nele befürchtete, er könnte es zerbrechen. Sie nahm es ihm weg.
»Hatte Ihre Tochter einen Freund?«
»Wie ist sie gestorben?«
Nele schüttelte den Kopf. »Darüber sprechen wir, wenn es Ihnen besser geht.«
»Hat sie … gelitten?«
»Nein«, log Nele. »Herr Gerstein. Wir tun alles, um den Täter zu fassen, der Ihnen Ihre Tochter genommen hat, aber dazu brauche ich Ihre Hilfe. Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten. Es ist wichtig.«
»Nein.«
»Wie bitte?«
»Sie hatte keinen Freund … Jedenfalls weiß ich von keinem.«
Was nichts heißen muss , dachte Nele. »Was ist passiert, bevor Ihre Tochter verschwand?«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Nur das Übliche. Wir haben gestritten.«
»Worüber haben Sie gestritten?«
»Ich … Ich weiß es nicht mehr.« Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Das ist schon vier Wochen her.«
Plötzlich starrte er sie an. Seine Wut, die Nele schon an der Haustür gespürt hatte, war wieder da.
»Vier Wochen!«, wiederholte er. »Wenn Sie und Ihre Leute vor vier Wochen besser gearbeitet hätten, dann könnte meine Tochter noch leben. Verstehen Sie! Sie könnte noch leben. Aber nein, es war ja klar, dass der strenge Vater das Kind aus dem Haus getrieben hat. Es ist allein die Schuld der Polizei, was meine Frau jetzt über mich denkt. Sie haben alles kaputt gemacht!«
Er deutete mit seinem langen, dünnen Zeigefinger auf Nele.
Nele hielt seinem Blick stand, sagte aber zunächst nichts. Darauf konnte sie nichts erwidern. In dieser Phase höchster Emotionalität waren vernünftige Gespräche immer schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, und trotzdem musste sie mit dem Mann reden. Es musste ganz einfach etwas geben, das sie auf die richtige Spur brachte.
Nachdem sie abermals eine kostbare halbe Minute hatte verstreichen lassen, sank Gersteins Hand auf die Tischplatte zurück, und der lodernde Blick in seinen Augen erlosch.
»Helfen Sie mir bitte, Herr Gerstein. Um Ihrer Tochter willen. Wohin wollte Daniela damals?«
»Ich weiß es nicht. Sie hat es mir nicht gesagt. Meine Frau kam besser mit ihr zurecht. Sie müssen meine
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