Bleiernes Schweigen
vielleicht hattest du sie.«
»Überschätz mich nicht, Adriano. Ich bin nur ein kleiner Schreiberling. Ich komme, wenn es an guten Geschichten fehlt, und löse das Problem. Aber ich bin nicht der Regisseur. Niemals. Dazu wäre ich gar nicht fähig.«
Adriano nickt. Dann kommt er auf den heikelsten Punkt zurück.
»Das war kein Gefallen für die Perseo. Die Entscheidung stand ihm gar nicht zu.«
Grossi schnappt sich die Fernbedienung des Fernsehers und schleudert sie gegen die Wand. Das Plastik zerbirst, die Batterien rollen in eine Zimmerecke.
»Wofür hältst du dich eigentlich, verdammt noch mal? Du schreibst zwei Zeitungsartikel und glaubst, du hast alles begriffen, stimmt’s? Wann bist du eigentlich so ein Arschloch geworden?«
Mein Vater wartet. Sein Satz hat ein Wortgefecht in eine Kneipenprügelei verwandelt. Grossi greift in seine Hosentasche, holt eine winzige Tablette hervor und würgt sie ohne Wasser hinunter. Dann lässt er sich mit geschlossenen Augen in den Sessel zurückfallen.
Langsam wird sein Atem ruhiger. Er schluckt und unterdrückt ein Husten. Dann öffnet er die Augen und sieht meinen Vater an.
»Das weiß ich schon lange, Adriano. Sehr viel länger, als du glaubst.«
»Er ist nicht der, der er zu sein behauptet.«
Carlo Binaghi sagt es mit einem Lächeln, ganz ohne Groll oder Wut. In einer Mischung aus Heiterkeit und Erleichterung, die ich mit seinen Worten einfach nicht zusammenbringe.
Er wiederholt es dreimal. Am Telefon, als wir uns treffen und an einem Bartisch in Palermo. Er erklärt mir, er wohne nur wenige Kilometer entfernt in Varese. Sein Vater sei nach seiner Heirat nach Sizilien gezogen.
»Eine spiegelverkehrte Immigration«, sagt er.
Ich versuche zu lächeln. Die Geschichte seiner Familie geht mir am Arsch vorbei. Ich will nur die Bedeutung dieses Satzes kapieren, der ihm ständig herausrutscht.
»Ich kenne Filippo seit der Grundschule«, fährt er fort. Und ab da begreife ich nichts mehr.
»Er war mein bester Freund. Unsere Familien waren Nachbarn, wir spielten zusammen. Sie wissen ja, wie das in dem Alter ist.«
»Welches Alter genau, wenn ich fragen darf?«
Ein beruflicher Reflex.
»Von sechs bis zwölf. Danach habe ich ihn nicht mehr wiedergesehen.«
Ich sehe ihn verständnislos an. Als er merkt, dass ich mit seinen Worten nichts anfangen kann, entschuldigt er sich und redet weiter.
»Filippo war ein sehr guter Fußballspieler, wissen Sie? Wir dachten alle, er würde Profi werden. Er spielte Rechtsaußen. Ich war längst nicht so begabt. Wir spielten in einer Pfarrgemeinde ganz hier in der Nähe, der Don Bosco.«
Ich muss ihm auf die Sprünge helfen, meine Geduld ist erschöpft.
»Was ist mit Filippo passiert?«
Auf Binaghis Gesicht erscheint ein irres Lächeln. Er ist glücklich, keine Frage. Trotzdem bin ich überzeugt, das er mir ein Drama erzählen wird.
»Ich war gerade zwölf Jahre alt geworden. Es muss so zwei Tage nach meinem Geburtstag gewesen sein.«
»Wir reden von dem Jahr …«
»1961.«
Ich nicke.
»Wir kamen gerade vom Training zurück. Zuerst kam man an mein Haus, und zwanzig Meter weiter stand seines. Als ich hereinkam, hörte ich Schüsse. Ich wollte hinrennen, aber meine Mutter hielt mich zurück. Wir sind später rübergegangen, mit allen anderen, als die Carabinieri eintrafen.«
»Filippo …«
»Nein, Filippo war nichts passiert. Sie hatten Don Tano umgebracht. Bei uns Kindern hieß er nur Don Tano, wir hatten ja keinen Schimmer. Er war ein Mafioso. Er war auf offener Straße erschossen worden, vor Filippos Haus. Und Filippo stand daneben. Plötzlich war ein Auto aufgetaucht, und zack.«
»Und Ihr Freund hatte alles mit angesehen.«
»Ja, alles. Und er erinnerte sich an alles. Sogar an das Nummernschild, mit Zahlen war er immer gut gewesen.«
Ich unterbreche ihn. Ich will ihn zu diesem Satz etwas fragen, aber dann überlege ich es mir anders.
»Seine Mutter hatte beschlossen, Anzeige zu erstatten. Einer der Typen, die geschossen hatten, war ihr bekannt vorgekommen. Alle rieten ihr davon ab. Filippo lebte mit ihr allein, der Vater war nie da, keine Ahnung, was für einen Job der hatte. Am Ende haben sie auf niemanden gehört und Anzeige erstattet.«
Ich warte. Binaghi sieht mich an, als müsse er nicht weiterreden. Dann tut er es doch.
»Sie wurden beide umgebracht«, fährt er fort. »Filippo und seine Mutter. Es war genau wie bei Don Tano. Es war ein Sonntagmorgen. Wir haben die Schüsse gehört, dann ist die
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