Bleiernes Schweigen
Polizei gekommen und hat sie unter Leichentüchern aus dem Haus getragen. Dann war die Beisetzung, der Vater war gekommen,er war verzweifelt, der Ärmste. Und hier endet die Geschichte.«
Es scheint, als müsste ich ihm jedes Wort aus der Nase ziehen. Dabei hat er mich angerufen und platzt fast vor Eifer, mir alles zu erzählen.
Ich sehe auf die Uhr. Eine gewollte Geste, um ihm klarzumachen, dass er keine Zeit verlieren soll.
»Ich verstehe nicht, was das mit dem zu tun hat, was Sie mir am Telefon sagten.«
Jetzt wird er ein bisschen nervös. Das ist seine Vorstellung, er bestimmt den Text.
»Das erzähle ich Ihnen jetzt. Ein paar Monate vor seinem Tod war Filippo bei mir zu Hause. Meine Mutter backte Kekse. Sie hatte sich diese Ausstecher in Tierform gekauft. Sie wissen schon, ein Hahn, ein Kaninchen. Ich und Filippo haben herumgealbert und er ist ausgerutscht und mit dem Arm auf den ofenheißen Förmchen gelandet. Es war so schlimm, dass er sogar ins Krankenhaus musste und eine Narbe zurückbehielt.«
»Eine Narbe?«
»Von der Verbrennung, ja. So was geht ja nicht immer vollständig weg. Ich hab Häschen dazu gesagt. Sie war genau hier.«
Er schiebt den Ärmel hoch und zeigt auf eine Stelle zwischen Handgelenk und Ellenbogen.
»Das Kaninchen war deutlich zu sehen. Und auch ein Teil vom Hahnenkamm.«
»Ich weiß noch immer nicht …«
Er fällt mir ins Wort und greift nach der Zeitung auf dem Tisch. Als wir uns getroffen haben, hatte er sie unter dem Arm. Er schlägt die zweite Seite auf und zeigt mir das Foto. Ich reiße es ihm aus der Hand.
»Ist Ihnen klar, dass es sich um einen Zufall handeln könnte?«
Er lacht mir ins Gesicht.
»Haben Sie das Foto gesehen, Dottore? Glauben Sie wirklich, das ist ein Zufall?«
Meine Hände sind schweißnass. Mein Blick wandert zwischen Binaghi und dem Foto hin und her. Ich gehe seine Schilderung noch einmal durch.
»Sie haben ihn nicht tot gesehen, richtig?«
Er breitet die Arme aus.
»Sehen Sie, Dottore, jetzt haben Sie’s. Ich habe ihn nicht gesehen. Nur ihn und die Mutter unter diesem Laken. Wenn sie wüssten, wie oft ich davon geträumt habe.« Er senkt die Stimme. »Eine ganze Weile später kamen Gerüchte auf. Sie wären gar nicht wirklich tot, man hätte sie heimlich fortgebracht, um sie zu schützen, weil Filippos Vater für den Staat arbeitete. Ich war klein, meine Mutter meinte, er sei Vertreter und deshalb ständig unterwegs, aber das war die Geschichte eines Helden, verstehen Sie? Ich bin mit der Hoffnung aufgewachsen, dass er noch am Leben sein könnte. Und jetzt …«
»Seine Mutter.«
»Filippos Mutter?«
»Ja. Wissen Sie noch, wie sie hieß?«
»Donati. Filippo hieß mit Nachnamen Donati.«
»Der Vorname, nicht der Nachname.«
»Natürlich weiß ich den noch. Grazia. Ich nannte sie immer Tante Grazia.«
»Und ihr Mädchenname?«
»Wissen Sie, wie oft ich auf diesen Klingelknopf gedrückt habe? Lipari. Tante Grazia hieß Lipari.«
Ich sehe auf die Uhr. Wenn ich mich beeile, schaffe ich es noch.
Ich stehe auf.
»Ich rufe Sie später an. Ich muss los.«
»Ich würde ihn gern treffen, wenn das möglich ist.«
Lächelnd drücke ich ihm die Hand und mache ein Versprechen, das ich nicht halten werde.
»Wenn Sie recht haben, ganz bestimmt.«
»Erst sehr viel später habe ich alles zusammengekriegt.«
Cesare Grossi redet mit einem Glas Brunello zwischen den Händen. Ehe er fortfuhr, ist er aufgestanden und hat zwei Gläser Wein eingeschenkt.
Genüsslich betrachtet er die purpurne Flüssigkeit und nippt daran.
»Es hat Jahre gebraucht«, sagt er. »Eines Tages laufe ich auf einer Tagung einem alten Freund in die Arme. Christdemokrat, einer von der strammen Sorte. Ein knallharter Kerl, der in den Siebzigern Reden für zahlreiche Minister verfasst hat. Du weißt ja, wie das auf Tagungen läuft. Man plaudert, trinkt was, geht zusammen essen. Und während wir beim Essen sitzen, fragt er mich nach Cèrcasi. Ich lasse ein paar Belanglosigkeiten vom Stapel, was hätte ich auch sagen sollen. Doch er haut einen Satz raus, der mich trifft wie der Schlag.
Rossini hatte schon alles durchdacht.
Ich konnte gerade noch mein Glas festhalten. Wäre es runtergefallen, wäre der Bann bestimmt gebrochen gewesen und ich hätte das Ende der Geschichte nie erfahren.«
Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen, sein Atem wird schwer. Er schließt die Augen und sieht aus wie ein Sportler, der sich auf den perfekten Bewegungsablauf konzentriert.
Dann
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