Bleiernes Schweigen
der Politiker Salvo Lima* im März in Palermo von zwei Motorradfahrern ermordet.
Ein Name und ein Nachname, die in Sizilien gleichbedeutend sind mit Giulio Andreotti*.
Man glaubt, die Welt werde ganz plötzlich enden, doch niemand weiß genau, wie und ob überhaupt.
An jenem letzten Apriltag weiß Adriano nicht, wovon der Mann redet, der ihm gegenübersitzt. Er stellt ihm ein paar Fragen, wechselt das Thema, kommt wieder darauf zurück, der andere hört ihm nicht mehr zu. Nach einer Weile steht er wie immer ganz plötzlich auf und geht.
Ehe er in die Redaktion zurückkehrt, bleibt mein Vaternoch geschlagene zwei Stunden am Bartischchen sitzen. Tags darauf ist wieder von Schmiergeldern die Rede, die ersten Ermittlungsbescheide gehen raus. Gegen den Mailänder Bürgermeister und seinen Vorgänger. Zwei Wochen später ist der Verwaltungssekretär der Democrazia Cristiana an der Reihe.
Die Lawine kommt ins Rollen, und der dahingesagte Satz des Mannes mit der Zigarette gerät zwangsläufig in den Hintergrund. Zumindest bis zur letzten Juniwoche, als alles schon wieder anders ist und der Freund meines Vaters sich wieder blicken lässt.
Diesmal sind sie in Rom, in einer Bar unweit der Galleria Colonna. Seit einer Woche muss Giuliano Amato* eine Regierung bilden, die es noch nicht gibt, die Bombe von Capaci* hat Andreotti daran gehindert, Staatspräsident zu werden, die Lega* wettert gegen das diebische Rom und sammelt Stimmen, und alles, was bis vor sechs Monaten Bestand hatte, scheint enden zu müssen wie der letzte Sommertag, hinweggefegt von einem plötzlichen Gewitterregen.
»Du bist nicht nach Sizilien gefahren, stimmt’s?«
Der Frage geht kein Gruß voraus.
Er hat meinen Vater am Abend zuvor im Hotel angerufen. Er wusste, dass er in Rom war, wusste, wo er untergebracht war und dass er ihn in dem Moment auf seinem Zimmer antreffen würde. Es hat weniger als zwanzig Sekunden gebraucht, um ein Treffen zu vereinbaren, und noch weniger, um dort anzuknüpfen, wo das Gespräch vor Monaten geendet hatte.
Adriano will etwas sagen, irgendetwas. Der zaghafte Versuch, sich nicht wie der unvorbereitete Schüler zu fühlen, den der Lehrer mit dem Buch unterm Tisch erwischt. Doch sein Gegenüber lässt ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Eine Handbewegung genügt, die unangezündete Zigarette zwischen den Fingern.
»Nicht nötig«, sagt er. Er macht sich die Zigarette an, überlegt. Nach einer Ewigkeit fängt er wieder zu reden an.
»Bei Carrara in der Toskana gibt es eine Menge Marmorsteinbrüche. Da lässt sich gut Geld verdienen, hab ich zumindest gehört. Es gibt da eine Gesellschaft, die einige davon betreibt. Sie heißt Smar, hast du mal von ihr gehört?«
»Hätte ich sollen?«
»Sagen wir mal, es könnte deiner … persönlichen Bildung dienen. Außerdem könnte es gegenwärtig von Interesse sein.«
Adriano zieht sein Notizbuch aus der Tasche und schreibt.
Sein Gegenüber drückt die Zigarette aus und steht auf.
»Es tut mir leid, dass ich nicht mehr Zeit habe«, sagt er.
Adriano versucht, den Köder auszuwerfen.
»Irgendwann reden wir dann auch über Sizilien.«
Der Mann, dessen Namen ich nicht kenne, bleibt neben meinem Vater stehen. Er setzt seine Sonnenbrille auf.
»Was glaubst du, worüber wir heute geredet haben?«, raunt er.
»Nimm die Smar unter die Lupe.«
Wenn Elena sich auf etwas verstand, dann war es Recherche. Fakten kombinieren, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, und die darunter verborgenen Muster freilegen. Ihre Notizbücher bersten vor Pfeilen, Fragen, Fragezeichen, Diagrammen, die einen Namen mit einem anderen, eine Gesellschaft mit einem Vorfall, einen Ort mit einer Person verbinden. Wenn Adriano alles über jemanden wissen musste, fragte er Elena.
Im Sommer 1992 befasste sich meine Frau mit Rechtsgeschichten. Theoretisch eine Praktikantin. In Wirklichkeit die rechte Hand meines Vaters, Hauptberichterstatter einer der größten Zeitungen Italiens.
Meine wahre Leidenschaft galt der Literatur, dem Roman, den ich nie schreiben würde, und den politischen Schlagzeilen, und in jenen Tagen der Schmiergelder und Ermittlungsbescheide war eine Zusammenarbeit unvermeidbar.
Die Smar allerdings blieb unter ihnen, als hätte Adrianovon Anfang an geahnt, dass man alles luftdicht, verborgen und im Dunkeln halten müsste. Eine Pflanze, die den Mangel braucht, um nicht zu früh einzugehen.
Und ein paar Tage später hatte Elena, der beste Spürhund, den ich je kannte,
Weitere Kostenlose Bücher