Bleiernes Schweigen
Die beiden Kollegen von der Kripo, die mit dem Streifenwagen weggefahren sind, sind versetzt worden. Einer nach Venedig und einer nach Macerata. Wie würdest du das nennen?«
»Keine Ahnung, sag du’s mir.«
Der Polizist wird ernst.
»Wir müssen uns sehen. Bald.«
»Das hast du in Palermo auch gesagt. Seitdem sind zwei Monate vergangen.«
»Diesmal ist es anders. Morgen Abend bin ich dort. Ich rufe dich an und sage dir, wo wir uns treffen.«
Das Gespräch ist beendet.
Die Schilderung meines Vaters gab mir zum ersten Mal das Gefühl, ich hätte nicht das Leben geführt, das ich zu führen glaubte. Zumindest was den Sommer 1992 angeht.
Elena und ich saßen in zwei verschiedenen Redaktionen. Manchmal trafen wir uns in einem Gerichtssaal oder bei einer Pressekonferenz im Justizpalast oder im Krankenhaus. Später besuchten wir auch Leichenschauhäuser und Parteisitze und waren noch mehr unterwegs, ständig darum bemüht, Giulia nicht zu kurz kommen zu lassen. Es gab genaue Zeitpläne, die eingehalten werden mussten, sonst wäre uns alles um die Ohren geflogen. Einer davon sah vor, dass man nach einem langen Arbeitstag auf dem Sofa zusammenbrechen durfte. Und man musste für die Probleme unserer Tochter ein offenes Ohr haben.
Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Das ist meine häufigste Entschuldigung, wenn ich versuche, mir die Tatsache, nichts begriffen zu haben, zu verzeihen. In Wirklichkeit ist das nur eine Ausrede, um nicht zugeben zu müssen, was ich nur allzu gut weiß. Ich war zu müde, zu abgelenkt, zu eingenommen von der Welt, die vor meinen Augen vor die Hunde ging, um den wahren Grund für das Verhalten meiner Frau zu erfassen. Um zu verstehen, dass ihr Wunsch nach Nähe, nach Worten, die Dringlichkeit ihrer nächtlichen Liebkosungen, und sei es nur ein Kuss auf die Schulter, das verzweifelte, himmelschreiende Bedürfnis waren, sich weniger einsam zu fühlen.
Heute schäme ich mich für meine Unachtsamkeit und weiß, dass es müßig ist, ein an Vergangenheit und Tod verendetes Verhalten wiedergutmachen zu wollen, aber was bleibt mir übrig? Außer schreiben.
Kann man dem, der eine Geschichte erlebt hat, zu Würde verhelfen, indem man sie dem Schweigen entreißt? Kann man Liebe, die man nicht gegeben hat, vergelten, indem man schwarz auf weiß niederschreibt, was geschehen ist? Kann man sich dann einreden, dass man nichts unternehmenkonnte und dass, selbst wenn man etwas unternommen hätte, doch alles genauso gekommen wäre? Kann man sich selbst durch eine Erzählung verzeihen?
Ich habe darauf keine Antworten, ich kenne sie nicht, so sehr ich mich auch bemühe. Auch nach der letzten Zeile werden sie nicht auf mich warten, das weiß ich.
Verzeihen kann nur der, der noch am Leben ist.
Und ich lebe in einer Totenstadt.
Der Treffpunkt ist eine Bar an der Ecke eines großen Platzes. Es gibt einen Gastraum rechts des Eingangs und einen kleineren in der ersten Etage. Dort wartet der Mann auf sie.
Elena und Adriano kommen zu früh, bleiben unter den Arkaden stehen und tun so, als betrachteten sie ein Schaufenster. Sie warten. Kurz vor fünf Uhr nachmittags betritt Giuseppe die Bar. Es regnet seit einer Viertelstunde, der Platz und die Straßen sind menschenleer, vor ihm ist nur eine alte Dame eingetreten. Sie hat ihren Cockerspaniel vor der Tür festgebunden und ist zehn Minuten später wieder herausgekommen.
Dann nichts mehr, zumindest bis jetzt.
Hastig überqueren mein Vater und meine Frau die Straße.
»Du bist nicht von der Polizei.«
Elena lässt jegliche Begrüßungsfloskeln außen vor und fällt mit der Tür ins Haus.
Giuseppe lächelt. Ein distanzierter Gesichtsausdruck, als hätte ein Tankstellenwart ihm einen platten Witz erzählt.
»Wie schön, euch wiederzusehen.«
Nicht einmal Adriano ist zu Nettigkeiten aufgelegt.
»Antworte.«
Giuseppe will aufstehen, doch mein Vater hält ihn am Handgelenk fest.
»Wir sind nicht zum Spaß hier. Und in Palermo waren wir es ebenfalls nicht. Das sollte wohl auf Gegenseitigkeit beruhen.«
Der Mann lässt den Blick zwischen Elena und meinem Vater hin- und herwandern und setzt sich.
»Ich glaube nicht, dass ich euch verraten kann, für wen ich arbeite. Aber das wird wohl auch nicht nötig sein. Aber nein, ich bin nicht von der Polizei, ich war es mal. Ich heiße auch nicht Giuseppe, falls es euch interessiert. Doch den Namen deines Freundes mit der Zigarette kennst du bestimmt auch nicht.«
Adriano zögert eine Sekunde, ehe er
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