Bleiernes Schweigen
d’Amelio teilt. Das Dach des Mietshauses. Das Castello Utveggio.
Über das CERISDI erfährt man schnell das, was sowieso bekannt ist. Ein Studienzentrum eben, offenbar selten genutzt und mit bedeutenden Namen in der Führungsriege. Der ehemalige Hochkommissar im Kampf gegen die Mafia. Der Kabinettschef eines Ex-Präsidenten der Region Sizilien, Professor für mittelalterliche Geschichte und Freimaurer.
Ende des Monats bringt sich ein achtzehnjähriges Mädchen um, sie gehört zu einer Mafia-Familie und hat beschlossen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Sie hatte mit Paolo Borsellino gesprochen. Ohne ihn, so schreibt sie vor ihrem Tod, gibt es niemanden, der sie beschützt.
Es stellt sich heraus, dass die Bombe in einem zwanzig Tage zuvor gestohlenen Fiat 126 versteckt war. Der Dieb wird rein zufällig Anfang September geschnappt.
Auf dem Rücksitz von Borsellinos Auto wird seine völlig unbeschädigte Ledertasche gefunden. Allerdings ohne den roten Taschenkalender, den er immer bei sich trug. Jemand behauptet, unmittelbar nach der Explosion sei ein Moped durch die Via d’Amelio gefahren. Vielleicht eine Kontrolle, für den Fall, dass die Bombe versagt hat.
Das Parlament verabschiedet den Artikel 41*, strengste Haftbedingungen für Mafiosi, und manch einer meint, auf diese Weise würde der Staat die Bosse genauso behandeln wie die Nazis die Juden.
Kurz nach Mariä Himmelfahrt erhält der Innenminister eine Drohung von einer Gruppe, die sich Falange Armata* nennt. Der Anruf geht bei einer nationalen Tageszeitung ein. Die Stimme spricht mit sizilianischem Akzent:
Auch er hat ausloten wollen, wie groß der Wille und die Entschlossenheit des Gegners tatsächlich ist. Schleichend hat er sie herausgefordert und die Provokation hochgeschraubt, bis der Gegner reagiert, reagieren muss, wütend wird und zum Gegenschlag ausholt.
Man fragt sich, wer diese Falange Armata ist, die sich ein Jahr lang zu sämtlichen Mafiaverbrechen bekennt. Lima, Falcone, Borsellino. Die 1991 für die Toten des weißen Fiat Uno* und ein Jahr zuvor für den Mord an einem Gefängnispädagogen im Mailänder Gefängnis Opera verantwortlich zeichnet. Die Politiker, Staatsanwälte und Journalisten bedroht.
Es wird bekannt, neben Paolo Borsellino stehe auch Antonio di Pietro* auf der Abschussliste. Denn auch über Mailand führt ein Weg zur Cosa Nostra. Kaum vorstellbar, dass mein Vater nicht an die Anonima Cementi gedacht hat. Aus dem Justizpalast wird ihm zugetragen, sämtliche große Parteien verfügten über Schwarzgeld, die Sozialisten steckten bis zum Hals in der Scheiße, es gebe da große norditalienische Unternehmen und Geldkanäle, die von besagten Unternehmen direkt in die Politik und nur allzu häufig in irgendjemandes Taschen führten.
Am 17. September dringt ein Killerkommando in die Villa Ignazio Salvos* ein. Der Geldeintreiber der Cosa Nostra, der Kriegsveteran, der den Clan der Corleonesi an die Macht gebracht hat, der Mann, der die Mafia an der politischen Leine hielt, wird mit Pistolen- und Gewehrschüssen ermordet. Salvo Lima und Ignazio Salvo. Giovanni Falcone und Paolo Borsellino.
Irgendjemand macht Tabula rasa, löscht die Vergangenheit aus, vollstreckt Urteile, vernichtet Feinde.
So vergeht der Sommer.
Noch zwei Mal haben Adriano und Elena von jenem Nachmittag in Palermo geschrieben. Offiziell verfolgen sie die Angelegenheit nicht. Inoffiziell haben sie nie damit aufgehört, ohne auch nur einen Schritt weiterzukommen.
Dann, Ende September, als niemand mehr damit rechnet, klingelt das Telefon.
»Der Bericht ist verschwunden, das wollte ich dir sagen«, sind Giuseppes erste Worte, als mein Vater abhebt.
»Wie schön, von dir zu hören …«
»Lass das dumme Gerede. Ich hab gesagt, der Bericht ist verschwunden.«
Adriano setzt sich. Draußen ist Herbst, grau wie Katzenaugen.
»Welcher Bericht?«
Giuseppe schnaubt.
»Die beiden Polizisten, die du auf der Terrasse gesehen hast …«
Adriano fällt ihm ins Wort.
»Der Polizist.«
»Ja, okay, okay. Du hast einen dort oben gesehen und einen unten. Die hatten einen Bericht über die Kippen geschrieben. Erinnerst du dich daran wenigstens noch?«
»Red weiter.«
»Der Bericht ist unauffindbar, futsch, verschwunden.«
»Und woher weißt du, dass sie ihn wirklich geschrieben haben?«
Giuseppe denkt kurz nach.
»Weil ich ihn in der Hand hatte.«
»Das ist noch nicht alles, stimmt’s?«
Giuseppe lacht.
»Verdammte Journaille … Ja, das ist noch nicht alles.
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