Bleiernes Schweigen
zu lassen. Er tut dies nie öfter als zwei Mal im Jahr, nur, wenn es notwendig ist und niemals etwas, das vor Gericht verwendet werden könnte. Es gibt keine offiziellen Unterlagen. Nur einen persönlichen Kontakt, der sich stets bewährt hat.
Er schließt die Augen.
»Die Person, von der ich glaube, dass sie es ist«, wispert er. Doch kein Laut kommt über seine Lippen. Er sitzt da, reglos und stumm, endlose Minuten lang.
Dann klopft jemand an die Tür.
Wie aus einem Alptraum gerissen fährt Daniele hoch.
»Herein«, ruft er und schließt den orangefarbenen Ordner.
Niemand würde Taletes wahre Identität für möglich halten.
Er würde es auch nicht tun, wenn er könnte.
Der Junge geht die Treppe hinauf und klingelt.
Wartet.
Klingelt wieder.
Wartet.
Eine Fliege summt um ihn herum. Er versucht sie wegzupusten, dann verscheucht er sie mit der Hand. Ohne Erfolg. Er denkt, dass er gern eine Zeitung hätte, um es diesem dämlichen, Scheiße fressenden Insekt zu zeigen.
Er klingelt ein drittes Mal. Keine Antwort.
Er sieht auf das Klingelschild. Zwar hat er das schon getan, aber sicher ist sicher. Arianna Lo Giudice. In Druckschrift mit blauem Stift. Er steckt die Hand in die Tasche und sieht sich um. Drückt auf eine andere Klingel.
»Wer ist da?«
Die Stimme eines alten Mannes.
»Ich suche Signorina lo Giudice, ich muss etwas abgeben.«
Ein Augenblick Stille.
»Die ist nicht da. Fragen Sie die Patruni und gehen Sie mir nicht auf den Sack!«
Der Junge bleibt vor der Tür stehen und versucht sich das Lachen zu verkneifen. Kopfschüttelnd geht er die Treppe hinunter und sieht auf die Klingelschilder. Patruni ist im zweiten. Er blickt auf die Uhr. Samstagmittag. Er drückt auf den Knopf.
Die Patruni ist zwischen dreißig und vierzig, hat ein paar Kilo zu viel und wirkt ein wenig einsam. Sie öffnet die Tür in Begleitung einer grau getigerten Katze, die ihr wachsam um die Beine streicht.
»Arianna ist auf den Malediven«, sagt sie. »Keine Ahnung, wann sie zurückkommt. Vor ein paar Tagen hab ich eine Postkarte von ihr bekommen. Hat sie dir gesagt, dass du heute kommen sollst?«
Der Junge lächelt. Normalerweise wirkt das immer.
»Eigentlich nicht.« Er zeigt das Päckchen. »Sie hatte das hier bestellt, und wir wollten ihr einen Gefallen tun. Sie ist eben eine gute Kundin.«
Die Patruni lächelt. Die Katze miaut.
»Tut mir wirklich leid. Kann ich …«
Der Junge unterbricht sie.
»Nein. Sehr freundlich.«
Er verabschiedet sich und geht.
Alles wie erwartet, keinerlei Überraschungen.
Das Haus hat drei Ebenen und steht auf der Inselseite, die steil zum Meer hin abfällt. Man erreicht es über eine Schotterstraße. Es ist von einem Elektrozaun umgeben, der sich ein paar Kilometer hinter der Stadt von der asphaltierten Straße bis zum höchsten Punkt der Klippe hinaufzieht. Privatgelände, steht auf einem Schild. In vier Sprachen, rote Buchstaben auf nachtblauem Grund.
Am Tag nach meinem Treffen mit Benetti habe ich mir ein Auto gemietet und dort ein wenig die Gegend erkundet. Ich habe versucht, den Weg wiederzufinden, den ich mit ihm gefahren bin, und beim dritten Anlauf gefunden, was ich gesucht hatte.
Da ist eine Art Kneipe, rund zwei Kilometer Luftlinie vom Haus entfernt. Ich habe mir ein Bier bestellt, mir ein gemütliches Plätzchen gesucht und mein Ziel beobachtet.
Diese Seite der Insel sieht aus wie eine offene Wunde. Das Meer hat sich in den Fels gefressen und das Festland verstümmelt. Das Ergebnis ist eine an eine Sanduhr erinnernde Form, deren schroffes Felsenprofil steil ins Meer abfällt. Das Haus, das ich suche, ist dort, abgeschieden vom Rest der Welt.
»Schönes Plätzchen, nicht wahr?«
Der Kneipenwirt ist ein braungebrannter Mittfünfziger mit starkem südamerikanischen Akzent. Womöglich der x-te kubanische Exilant, der vor Castro geflohen ist, aber ich hüte mich, ihn zu fragen. Wir verständigen uns in einer Mischung aus Englisch und Spanisch.
Zu dieser nachmittäglichen Stunde ist das Lokal leer, vielleicht sogar geschlossen, und er hat mich nur aus Höflichkeit bedient, weil er mich für einen Touristen hielt, der sich verfahren hat oder ein bisschen Ruhe haben wollte.
»Ja, das kann man wohl sagen. Aber ich weiß nicht, ob ich da leben wollte.«
Er sagt nichts. Bleibt neben mir stehen, ein Bier in der Hand. Dann erklärt er mir, dass der Typ, der da wohnt, ein ziemlicher Eigenbrötler ist. Ab und zu sieht man ihn am Strand oder in der Stadt, um die Vorräte
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