Bleiernes Schweigen
er sich überrascht, sagt aber auch, er habe sich immer so etwas gedacht. Und dass es sowieso nicht anders hätte laufen können. Er erklärt mir, seine Versetzung sei als verdiente Beförderung dahergekommen, hinter der alles andere zurückgetreten sei. Erst nach langer Zeit, nach Curatolos Geständnis, habe er angefangen, diesen Tag aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und sich zu fragen, ob da nicht irgendetwas faul sei und ob es zwischen den Hauseigentümern und dem Mann im Fiat 126 eine Verbindung geben könnte.
Dann war das vergebliche Warten darauf, auszusagen – vor einem Gericht, einem Richter oder einem Journalisten –, zu einer Bestätigung geworden, dass etwas nicht so gelaufen war, wie es sollte. Eine Weile hatte er versucht, etwas zu unternehmen. Dann hatte er begriffen, dass ihm nichts übrigblieb, als zu kapitulieren, so zu tun, als wäre nichts, und seine Arbeit zu machen.
Er nennt mir die Namen der beiden Kollegen, die er beim Mietshaus getroffen hat. Ich tue so, als kennte ich sie bereits, und hoffe, sie mir merken zu können. Er will wissen, ob ich schon mit ihnen gesprochen habe. Ich lüge und sage, sie wollten nicht reden. Er fragt mich nach dem Kollegen, der mit ihm zusammen war, und diesmal sage ich die Wahrheit: Er will von jenem Tag nichts wissen. Er gibt zu, dass er das gut versteht. Er erzählt mir von seiner Familie, von seiner Tochter, die aufs Gymnasium geht. Ich erzähle von Giulia, und für einen kurzen Moment sind wir wie zwei alte Heimkehrer, die am Meer sitzen und von einer Vergangenheit leben, an die sie sich nur noch vage erinnern.
Die Wahrheit wird nie ans Licht kommen, murmelt er zum Schluss. Und als ich ihn frage, warum, zitiert er diesen Satz. Wie ein Held denken, um wie ein anständiger Mensch zu handeln. Niemand, sagt er, und er als Allerletzter, hat jemals eines von beidem getan.
Kurz darauf verabschieden wir uns.
Auf der Rückreise lese ich keine einzige Zeile. Ich denke an dieses Treffen, an den Händedruck, mit dem er mich entlassen hat, an das hartnäckige Gefühl, dass die Wahrheit unter Milliarden Glasscherben begraben liegt. Eine so riesige Anzahl von Scherben, dass man den Spiegel selbst dann nicht wieder zusammensetzen könnte, wenn man sie alle fände.
Zu Hause komme ich auf diesen Satz zurück. Ich hole die DVD heraus und setze mich mit untergeschlagenen Beinen in den Sessel.
Helden und anständige Menschen. Ich frage mich, ob es beides wirklich gibt.
Und so endet der Tag. Ein Tropfen Limoncello, der einzige Alkohol, den ich im Haus gefunden habe. Um auf die Dinge anzustoßen, die getan werden müssten, und auf den Mut, den man nicht aufbringt, mit Bartholomew Scott Blair, Verleger, Alkoholiker, Saxofonspieler, Besitzer eines Hauses mit Blick auf den Lissabonner Hafen, Liebhaber Russlands, der Russen und der Worte. Und – hätte es ihn über le Carrés Phantasie und Sean Connerys melancholisches Lächeln hinaus wirklich gegeben – ein anständiger Mensch.
Ich hatte gedacht, dass ich Daniele erst sehr viel später wiedersehen würde.
Die Einladung zum Abendessen wenige Tage nach dem Treffen mit dem Polizisten überrascht mich. Diesmal gibt es keine Vorwarnung. Er erwartet mich in ein paar Stunden, er hat eingekauft und will mir seine Spezialität kochen.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass er kochen kann. Ehe ich losfahre, kaufe ich noch eine Flasche Weißwein, einen Traminer, den ich liebe und den ich seit einer Ewigkeit nicht mehr getrunken habe.
Als ich mit dem Taxi ankomme, steht er bereits in der Küche. Der Wein freut ihn, er weiß nicht, ob er zu dem Essen passt, aber das ist uns egal.
Ich berichte ihm kurz von meinem Treffen und der Blitzrecherche meines Vaters in der Immobilienwelt. Ich bin sicher, dass mein Vater mir noch immer vieles verheimlicht, aus einem Schutzinstinkt heraus oder weil er meiner mangelnden Erfahrung und dem Rost, den ich in den Jahren meiner Untätigkeit angesetzt habe, nicht traut.
Daniele kramt im Kühlschrank, in den Küchenschränken und in den Einkaufstüten herum. Er hört zu. Diese Fähigkeit hat er noch immer. Er rät mir zu warten, meinen Vater genauso auf die Probe zu stellen, wie er es offenbar auch mit mir tut. Und zwischen dem, was ich wissen muss, und dem, was ich ausblenden kann, eine klare Linie zu ziehen.
»Jeder hat sein eigenes System, und vergiss nicht, er ist Journalist.«
»Er war es«, verbessere ich ihn und merke sofort, dass das nach vergrätztem, missgünstigem Sohn
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