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Bleischwer

Bleischwer

Titel: Bleischwer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Wünsche
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recht gewusst, von welchem Albtraum er
genau sprach. Denn sie selbst trug doch noch die schrecklichen Bilder des
ermordeten Stefan Winter im Kopf. Und die eines völlig fertigen Michael
Faßbinder mit gefesselten Händen. Aber dann war ihr klar geworden, dass Jörg
ihre Ehekrise meinte und die Entfremdung zwischen ihnen.
    »Du
brauchtest eine Auszeit, ich weiß. Nach dem Unfall und der Fehlgeburt«, war er
weiter in sie gedrungen. »Du warst … mir
nicht immer treu. Ich weiß. Aber … «, er
hatte sie eindringlich angesehen, »du bist das Wichtigste in meinem Leben.
Bleib bei mir! Besinne dich auf das, was wir uns bis vor ein paar Monaten
bedeutet haben. Bitte, komm erst einmal mit mir zurück nach Hause.«
    Sein
Blick und seine Körperhaltung waren flehentlich gewesen. Das hatte Jule
verwirrt und aufgescheucht. Ihr starker, souveräner Jörg bat um eine zweite
Chance. Er war bereit, ihr zu verzeihen, damit sie bei ihm blieb. Das war
unfassbar. Und wie sie ihn da so stehen gesehen hatte, mit hängenden Schultern,
einsam, traurig, rührte er ihr Herz. Die Schuldgefühle drohten, sie in den
Abgrund zu ziehen wie Bleigewichte an den Füßen. Sie hatte nur schwach nicken
können.
    »Ist
gut«, hatte sie verlegen gemurmelt. »Es tut mir alles schrecklich leid. Ja,
lass uns heimfahren.«
    Vor
lauter Erleichterung hatte er sie mitten auf dem Bürgersteig vor der
Polizeistation umarmt. In dem Moment löste sich ihre Erstarrung. Wärme breitete
sich von Kopf bis Fuß in ihr aus. Sie erwiderte die Umarmung, während ihr die
Tränen wie Gebirgsbäche nach der Schneeschmelze über die Wangen liefen.
    Jetzt,
drei Stunden später auf der A 1, hatten sich Sprachlosigkeit und die alte Kluft
aus Verletzung und Gewissensbissen erneut zwischen sie geschlichen. Jeder hing
den eigenen Gedanken nach. Jule musste an Michael denken. Ob man ihn freilassen
würde? Ob er über die Begegnungen mit Stefan – wie
vereinbart – geschwiegen hatte?
    Wenn
nicht, dann hätte man sie erst gar nicht gehen lassen, oder? Man hätte sie der
Falschaussage überführt.
    Aber
was passierte jetzt mit Michael? Welches Recht nahm sich die Polizei heraus,
ihn festzuhalten? Blutuntersuchung, so ein Blödsinn. Als wenn Micha ihr ein
Betäubungsmittel eingeflößt hätte! Wann denn?
    Schnurstracks
war sie in ihren Überlegungen bei seinen sanften Händen und leidenschaftlichen
Küssen angelangt, bei seinen Augen, die die ihren festhielten – selbst
beim Höhepunkt. Die Schuld schnürte ihr die Kehle zu; sie bekam einen schalen
Geschmack im Mund.
    Ab
sofort verbot sie sich jeden Gedanken an den ›Eifelwind‹ und an das Faktotum.
Sie war auf dem Rückweg nach Kaarst, auf dem Rückweg in ihr eigentliches Leben.
Basta.
     
    Kaarst. Die Kleinstadt mit
42.000 Einwohnern zwischen Neuss und Mönchengladbach war von jeher Jule
Maiwalds Heimat gewesen. Hier war sie aufgewachsen. Hier lebte sie immer noch.
    Wie
kann man etwas objektiv betrachten, in das man hineingeboren wurde? Gar nicht
wahrscheinlich. Deshalb störte Jule sich nicht an der Eintönigkeit der
Landschaft, in die sie nun samt Jörg mit dem Audi eintauchte. Im Gegenteil,
Kappes-, Kartoffel-und Rübenfelder zwischen den einzelnen Ortsteilen
ermöglichten immerhin einen ungehinderten Blick auf die Silhouetten am
Horizont: Kirchtürme, Häuserzeilen, die Braunsmühle, Windräder, die Skihalle.
Kaarst lebte im Beieinander von Extremen: Backsteingehöfte neben futuristischer
Industriearchitektur, dörfliche Idylle neben Großstadtallüren, Katholizismus
neben Weltlichkeit, Tradition neben Werteverlust, Schützenbrauchtum neben
Freigeist.
    Wer
hier lebte, lavierte sich genau zwischen diesen Gegensätzlichkeiten hindurch.
Man liebte die Bodenständigkeit und versuchte sich in Weltoffenheit. Perfekt,
fand Jule. Perfekt, aber nicht schön.
     
    Das Haus hielt Ordnung,
Sauberkeit und ausgewogene Proportionen bereit. Langsam ging Jule durch alle
Räume im Erdgeschoss und atmete dabei den Geruch ihrer Ehe ein. Mit jedem
Atemzug vereinte sie sich mehr mit dem alten Leben. Jeder Schritt brachte sie
Jörg wieder näher. Unwillkürlich straffte sie die Schultern. Schön, sie war zu
Hause. Lächelnd drehte sie sich zu ihrem Mann um, der in der weiträumigen Diele
stehen geblieben war. Schnell trat sie zu ihm, fiel in seine Arme und ließ sich
von ihm umfangen.
    Am
Abend telefonierte sie mit Tobi. Ihr Sohn hatte sich gut in Pennsylvania
eingelebt. Er war froh, endlich persönlich mit seiner Mutter zu sprechen, anstatt
immer

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