Bleischwer
Vor Überdruss seufzend drehte sie sich
auf dem Absatz um und überließ ihre Schwester und ihre kleinen Neffen sich
selbst.
Zu Hause räumte sie die
frischen Lebensmittel in den Kühlschrank und knetete den Pizzateig.
Anschließend stellte sie ihn mit einem Handtuch abgedeckt in die tanzenden
Sonnenstrahlen auf der Küchenarbeitsplatte. Sie wusch sich die Hände und machte
es sich mit Sonja Bohrs Pappkarton auf dem Sofa bequem. Säuberlich sortierte
sie die Post in zwei Stapel. Links die von Stefan Winter aus der JVA Ossendorf,
rechts die von Frank Becker. Eine Handvoll Briefe passte in keine der
Kategorien. Diese interessierten sie besonders. Das erste Schreiben trug den
Briefkopf eines Reisebüros. Es war die Bestätigung zweier reservierter Flüge
von Düsseldorf über Bangkok nach Sydney. Die Reise war für August dieses Jahres
gebucht. Es handelte sich um One-Way-Tickets, gebucht auf S. Bohr.
Nun
waren noch drei mehrfach geknickte Blätter aus einem linierten Schreibblock
übrig. Schnell begriff Jule, dass es sich um Notizen Sonjas handeln musste. Das
Gedicht über den Eifelwind, der über den Maiwald strich, wurde darin vielfach
auseinander genommen. ›Moos = Geld‹, stand da zum Beispiel. ›Wein = Weinen?‹
Einige Worte waren bis zur Unkenntlichkeit durchgestrichen. ›Winter kalt?‹
konnte sie dagegen gerade noch entziffern. ›Wenn Stefan tot ist???‹ stand
daneben geschrieben. Der dritte Zettel beschäftigte sich hauptsächlich mit dem
Wort ›Maiwald‹. ›Januar, Februar, März, April, Mai = 5?‹ wurde da gerätselt.
Fünfter Wald? Wo? Jule konnte nur mit dem Kopf schütteln. Stefan Winters
Jugendliebe kannte offenbar den Maiwald’schen Stellplatz nicht. Und dieser
Umstand hatte es ihr unmöglich gemacht, das Gedicht zu dechiffrieren. Womöglich
hat sie sich nur deshalb Verbündete gesucht, mutmaßte Jule. Zuerst den
Dorfpolizisten und dann Stefan Winter. Sie schluckte. Einer von denen hatte
Sonja Bohr getötet, das lag nahe. Da Stefan es Jules Meinung nach nicht gewesen
war und der Mord an ihm selbst das zusätzlich unwahrscheinlich machte, blieb
allein Frank Becker übrig.
Behutsam
bettete sie alle Briefe zurück in den Karton und stülpte den Deckel darüber.
Sie trug ihn nach oben in ihr sogenanntes Bügelzimmer und versteckte ihn hinter
einem Stapel Bettwäsche.
Es war
erst kurz nach vier. Sie begutachtete den Hefeteig, bevor sie sich die Jacke
überwarf, den Autoschlüssel schnappte und ein drittes Mal an diesem Tag durch
die unschuldige Frühlingssonne zu ihrem Elternhaus fuhr.
Auf der Strecke zwischen
Büttgen und Driesch überwältigte sie das satte, frische Grasgrün zwischen
Straße und Radweg. Der Himmel darüber schillerte in reinem ungetrübten Blau.
Auf den Feldern regten sich erste zarte Pflänzchen. Die Natur blickte stets
nach vorne, nie zurück, philosophierte Jule. Jetzt begann die Zeit des Keimens
und Wachsens. Vom Stillstand, dem Ausharren und der Depression des Winters war
nichts mehr zu spüren. Als hätte es das alles nie gegeben.
Jule
packte das Lenkrad fester und passierte den Ortseingang von Driesch. Nur der
Mensch ist es, der zurückzuschauen vermag, dachte sie. Was für ein Fluch.
Janas Auto stand nicht mehr in
der Einfahrt. Gut. Ungesehen schlüpfte Jule ins Haus. Zuerst ging sie ins
Gästezimmer. Noch immer spannte sich das Bettzeug über den Rahmen wie die
botoxgeglättete Stirn einer alternden Schauspielerin. Aufmerksam sah Jule sich
um. Nirgendwo stand Michaels Reisetasche. Sie schaute sogar im leeren
Kleiderschrank und unter dem Bett nach. Nichts, bevor sie ins Bad lief.
Zahnbürste, Zahnpasta und das neue Duschgel, das sie für ihn gekauft hatte,
waren weg. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, ob die Sachen heute morgen
noch da gewesen waren. Leider ohne Erfolg.
In der
Küche hatte Jana gründlich aufgeräumt. Das war unübersehbar. Die Arbeitsflächen
glänzten leer und sauber, ihre handgeschriebene Notiz war verschwunden, und im
Kühlschrank lagerte außer einer verschlossenen Margarinepackung nichts mehr.
Mit dem Fuß betätigte sie den Öffner des Mülleimers. Sogar der Beutel war
entfernt worden. Als letztes näherte sich Jule zögernden Schrittes der Couch.
Auch hier hatte ihre Schwester ganze Arbeit geleistet. Der Fleck auf dem
Teppich war kaum noch zu erkennen. Die Tischplatte schimmerte blank gescheuert.
Jule schüttelte den Kopf. Sie konnte sich Janas Putzwut nicht erklären.
Nachdenklich ging sie zurück in den Flur. Ein
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