Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bleischwer

Bleischwer

Titel: Bleischwer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Wünsche
Vom Netzwerk:
Medizinschränkchens beulte ihre
Handtasche aus. Per Handy wählte sie ein chinesisches Fastfoodrestaurant auf
der Rheydter Straße an und bestellte Hähnchen mit Currysauce und Ente süßsauer.
Sie brachte es einfach nicht übers Herz, Micha Pizza aus einem italienischen
Schnellimbiss mitzubringen, wenn in ihrer offenen Küche noch raue Mengen an
selbst gebackener lagerten. An die sie blöderweise nicht herankam, weil die
drei kartenspielenden Anwälte ihr Vorhaben sonst bemerkt hätten.
    Jule
seufzte ungehalten. Wie ein Dieb hatte sie sich aus ihrem eigenen Haus
geschlichen. Sie fieberte der Begegnung mit Micha entgegen. Wie war er dort
hingeraten, wo er sich zweifellos zur Zeit befand? Das war unglaublich.
Unfassbar! Verwirrt schüttelte sie den Kopf.
    Um ein
Haar wäre sie am ›China-Garten‹ vorbei gefahren. Schleunigst parkte sie ein
paar Meter weiter am Straßenrand und hetzte in den Laden. Mit fliegenden
Fingern nahm sie das abgepackte Essen in der verknoteten Plastiktüte von einer
winzigen Chinesin entgegen.
    Kurz
darauf ging es weiter Richtung Drususallee. Jule benutzte einen der
Anwohnerparkplätze an der altehrwürdigen, von Kastanienbäumen gesäumten Straße
mit den gepflegten mehrstöckigen Patrizierhäusern. Hier kannte sie sich aus,
seit zehn Jahren schon. Wieder fragte sie sich, was Micha hergeführt hatte.
Unter dem Licht einer Straßenlaterne kramte sie den Schlüsselbund aus der
Handtasche. Nebenbei fiel ihr Blick auf das polierte Messingschild neben der
dunkelblau lackierten Eichentür. ›Theisen und Lohmann, Anwälte für
Verwaltungsrecht‹, las sie wohl zum tausendsten Mal.
    Die
Holztreppe knarrte in der Nacht noch mehr als am Tage, fand Jule, während ihre
Füße den Weg automatisch in den ersten Stock fanden. Sie hatte es vermieden,
die Flurbeleuchtung anzuschalten. Warum, das war ihr selbst nicht ganz klar.
Endlich stand sie vor der Tür zur Kanzlei. Auch hier benutzte sie Jörgs
Schlüssel. Allerdings drehte er sich allzu leicht im Schloss. Jemand hatte die
Mechanik beschädigt.
    Klopfenden
Herzens und zögernden Schrittes tauchte sie ein in das satte Dunkel der
Büroräume. Alles kam ihr wie immer vor, nur nicht die Lichtverhältnisse. Jule
konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal nach Sonnenuntergang in der
Kanzlei gewesen war.
    »Micha?«,
fragte sie verzagt und ärgerte sich gleichzeitig über ihre Ängstlichkeit.
    Vorsichtig
tappte sie ein paar Schritte weiter, auf Jörgs Bürotür zu. Die stand halb
offen. Ein schwaches Licht glomm durch die Öffnung.
    »Ich
bin hier.«
    Die
Kraftlosigkeit in seiner Stimme erschreckte sie über die Maßen. Plötzlich war
alle Vorsicht vergessen. Entschlossen stieß sie die Tür zu Jörgs Büro auf.
    Was sie
sah, war nicht dazu angetan, sie zu beruhigen. Eine Schreibtischlampe war auf
den Boden gestellt und mit einem Tuch bedeckt worden, sodass das Licht extrem
gedimmt wurde. Daneben hockte Michael mit angewinkelten Beinen, den Rücken an
einen Heizkörper gelehnt. Um ihn herum lagen Papiere über Papiere, entweder
stapelweise oder kunterbunt durcheinander. In dem Wust machte Jule eine
Wasserflasche aus sowie zusammengeknüllte, rot verfärbte Papierhandtücher. Aber
nicht das Chaos war es, was sie erschreckte, sondern der Zustand des Menschen
in dessen Zentrum. Mit matten Augen und schneeweißem Gesicht starrte ihr Micha
entgegen. Auf seiner Stirn prangte eine große Platzwunde. Sie wurde von gelben,
grünen und blauen Verfärbungen flankiert. Seine Kleidung war verdreckt, das
ehemals weiße T-Shirt am Ärmel zerrissen.
    »Oh
Gott, du siehst ja furchtbar aus«, stammelte sie, schob einige Papiere zur
Seite und sank neben ihm zu Boden. Dann begutachtete sie die Kopfwunde aus
nächster Nähe. »Das hätte genäht werden müssen«, stellte sie nüchtern fest.
»Aber inzwischen ist es zu spät dafür.«
    Sie
legte die Hand an seine Stirn. Möglich, dass er Fieber hatte. Jetzt betastete
sie vorsichtig die entzündeten Wundränder, während Micha sie nicht aus den
Augen ließ.
    »Küss
mich«, flüsterte er heiser, »dann geht’s mir gleich besser.«
    Ein
müdes, zärtliches Lächeln huschte über seine Züge. Dagegen konnte sie sich
nicht wehren. Behutsam küsste sie die ausgedörrten Lippen und streichelte die
stoppelige Wange. Im selben Moment spürte sie, wie seine Hand in ihr Haar und
danach auf die Schulter kroch. Sie wanderte weiter und blieb schließlich in
ihrem Schoß liegen. Sein Kuss war zart wie ein Hauch. Das zeigte ihr,

Weitere Kostenlose Bücher