Blick in Die Angst
Nachmittags versuchte ich, mich im und am Haus zu beschäftigen, doch ich hielt immer wieder inne und starrte ins Nichts. Lisas Worte verfolgten mich: Es fing an, als ich dreizehn war .
Wenn ich mir vorstellte, wie Garret Lisa anfasste, wenn ich an all die Male dachte, bei denen ich die beiden allein gelassen hatte, verwandelten Schuldgefühle meinen Bauch in einen harten Knoten. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er davonkommen würde – den Gedanken, dass er noch anderen kleinen Mädchen etwas antun könnte.
Ich schnappte mir meine Handtasche und fuhr zu seinem Studio. Bei meiner Ankunft ging gerade eine Mutter mit ihrer Tochter, die das Teenageralter noch nicht erreicht hatte, zu ihrem Wagen und winkte Garret zum Abschied lächelnd zu. Sein Grinsen, das ich zuvor für eine freundliche Erwiderung ihres Lächelns gehalten hätte, widerte mich jetzt an. Ich wartete, bis das Auto davongefahren war, dann stieg ich aus meinem aus und betrat sein Studio, in dem er gerade einige Bilder rahmte. Als er meine Schritte hörte, drehte er sich um und lächelte, als er mich erkannte.
»Nadine! Du kommst, um dir das Studio anzuschauen. Es passt perfekt, ich wollte nur …«
»Ich weiß Bescheid, Garret. Ich weiß, was du getan hast.« Ich war voller Zorn hergekommen, wollte ihn zur Rede stellen und toben, doch jetzt war mir nur noch zum Heulen zumute. Diesen Jungen hatte ich aufwachsen sehen, diesen Jungen hatte ich festgehalten, als er bei der Beerdigung seines Vaters weinte. Wie hatte das passieren können?
Er sah mich irritiert an. »Was ist los?«
»Wie konntest du nur?« Meine Worte klangen wie eine flehentliche Bitte, mich nachempfinden zu lassen, was ich niemals würde begreifen können. »Wie konntest du Lisa so etwas antun?«
Er wich zurück und hob abwehrend die Hände. »Ich weiß ja nicht, was für Lügen sie dir erzählt hat …«
»Ich weiß, dass du sie missbraucht hast.«
Ich suchte seinen Blick, hoffte auf Anzeichen von schlechtem Gewissen, von Reue. Aber er hatte sich bereits wieder gefasst und sah mich wütend an.
»Lisa ist drogenabhängig und eine Diebin. Sie lügt ständig.«
»Bei dieser Geschichte würde sie nicht lügen. Ich weiß , dass du es getan hast – und dass du sie letzte Woche unter Drogen gesetzt hast. Dein Vater würde sich schämen für dich.« Paul wäre am Boden zerstört gewesen, wenn er herausgefunden hätte, dass sein Sohn ein Kinderschänder war, der seine eigene Schwester vergewaltigte.
»Mein Vater würde wissen, dass ich gar nichts getan habe.« Garrets Stimme war fast schrill. »Mein Vater hat mich geliebt.«
»Ich habe dich auch geliebt – genau wie Lisa. Und das hast du ausgenutzt.«
Garret versuchte, sich zu beherrschen, holte ein paarmal tief Luft und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Nadine, du kennst mich doch.«
»Ich dachte , ich würde dich kennen.«
»Ich würde sie niemals anrühren – sie ist meine Schwester. Aber sie ist total verkorkst von den Drogen, und wenn sie stoned ist, lügt sie. Sie hat diesen Scheiß nur erzählt, um dich zu verletzen.«
Einen Moment geriet ich ins Wanken. Konnte er recht haben? Dann dachte ich an ihren Blick. Nein, Lisa mochte mich oft angelogen haben, aber nicht dieses Mal.
Garret lehnte sich an den Tisch und schob einen Rahmen beiseite, als wollte er Platz für seine Hand schaffen, doch etwas an dieser Bewegung wirkte unnatürlich. Dann sah ich die Fotos auf dem Tisch. Eines davon stach mir ins Auge. Jeder andere hätte lediglich die Umrisse einer Frau gesehen, die sich, mit dem Rücken zum Betrachter, auf einer Matratze zusammenkauert. Aber ich kannte meine Tochter, kannte jede Kurve und jede Erhebung ihrer Wirbelsäule. Es war Lisa. Ich ging um Garret herum, zog das Bild unter den anderen hervor und betrachtete es schockiert. Es schien im selben Raum aufgenommen worden zu sein, in dem ich sie gefunden hatte. Von wann stammte die Aufnahme?
Garret sagte hastig: »Sie hat einen Modelvertrag unterschrieben.«
Meine Gedanken überschlugen sich. Hatte er die Bilder gemacht, nachdem er sie unter Drogen gesetzt hatte? Was hatte er sonst noch von ihr verlangt? War es das, was sie dazu getrieben hatte, in die Kommune zu ziehen? Zorn und hilflose Wut darüber, wie meine Familie zerbrach, überwältigten mich. Ich hielt ihm das Foto hin. »Was ist das?«
»Es ist ein Projekt, an dem ich arbeite. Lisa brauchte Geld.« Er klang defensiv, aber auch nervös. Sein Blick huschte zu dem Bild.
»Was hast du noch mit ihr
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