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Blick in Die Angst

Blick in Die Angst

Titel: Blick in Die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chevy Stevens
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ihre Leichen wurden nie gefunden. Als wir kleiner waren, fuhren unsere Eltern manchmal mit uns zum Mason’s Beach zum Schwimmen. Ich hatte furchtbare Angst, und die Wasserpflanzen, die meine Beine streiften, waren für mich Geisterarme, die von unten nach mir griffen. Ich nahm an, dass die Frau sich darauf bezog, und sagte: »Die Ertrunkenen der First Nations?«
    Sie nickte. »Die und noch ein paar andere. Ein Paar wurde bei einem Unfall mit dem Schnellboot getötet. Und ein Holzfäller ertrank beim Wasserskifahren. Die Leichen wurden nie gefunden, so dass sie im See sprengen mussten – da tauchten sie erst auf.«
    Wir sahen uns an. Ich stellte mir vor, wie die aufgedunsenen, weißen Leichen aus der Tiefe emporstiegen, und spürte die Haut in meinem Nacken kribbeln.
    »Und dann natürlich die Selbstmörder«, fügte sie hinzu.
    Ich dachte an meine Mutter. Zählten die Leute im Ort ihren Tod zu den Tragödien oder den Selbstmorden? Die Wände des Museums schienen plötzlich auf mich zuzukommen, meine Kehle war wie zugeschnürt, und mir wurde am ganzen Körper heiß. Ich musste hier raus.
    Lass dir Zeit, entspann deinen Kehlkopf. Du bist nicht deine Panik.
    Ich tat, als würde ich ein Foto an der Wand betrachten, und nach ein paar Herzschlägen hatte sich mein Atem halbwegs wieder normalisiert. Ich wandte mich wieder an die Frau. »Ja, Shawnigan hat tatsächlich eine faszinierende Geschichte. Ich hatte gehofft, selbst etwas mehr herausfinden zu können. Deshalb habe ich nach der Kommune gefragt. Ich würde mich gerne mit ein paar Leuten aus dem Ort unterhalten, die in den Sechzigern hier gelebt haben und sich möglicherweise an sie erinnern. Ich bin auf der Suche nach ein paar alten Freunden.«
    »Wissen Sie, mit wem Sie mal reden sollten? Larry Van Horne. Er lebt draußen an der Silver Mine Road.« Sie deutete auf eine der Wände. »Er hat ein paar von den Fotos gespendet.« Ich sah in die Richtung, in die sie gezeigt hatte, und bemerkte ein Foto von einem Langholztransporter. »Das war seiner. Er nannte ihn Big Red.« Sie lachte. »Wenn Sie Geschichten wollen, er hat sie. Aber er kann ziemlich grantig sein.«
    »Klasse. Danke für den Tipp.«
    Ich erwarb eine der gemalten Landkarten und überlegte kurz, ob ich die Frau bitten sollte, niemandem von meinem Besuch zu erzählen. Aber ich hatte das Gefühl, dadurch erst recht Aufmerksamkeit zu erregen, also ließ ich es bleiben. Als ich aus dem Museum trat, fiel mir ein großer Mann mit fuchsrotem Haar auf, der das öffentliche Telefon auf der Veranda des Eckladens benutzte. Er fing meinen Blick auf und wandte sich ab. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen, aber dann lachte er ins Telefon, und der Moment war vergangen.

    Die Frau aus dem Museum hatte gesagt, ich würde Larry in dem großen Holzhaus am Ende der Straße finden, und sie hatte keinen Witz gemacht – das Haus war riesig. Ich parkte direkt davor und ging auf die Vordertreppe zu. Eine alte, weiße Katze kam mir steifbeinig zur Begrüßung entgegengehumpelt.
    Die Tür öffnete sich, und ein kleiner Mann mit breitem Oberkörper, in grauem Wollunterhemd und Jeans, mit Hosenträgern und ausgeblichener Baseballmütze über dem schütteren grauen Haar, spähte hinaus. »Ja?«
    Ich stieg die Stufen hoch. »Hi, Larry, mein Name ist Nadine Lavoie. Ich wollte nur …«
    »Kenne ich Sie?« Er sah mich blinzelnd an, und ich überlegte, ob er mich vielleicht als Kind in Shawnigan gesehen hatte, aber dann würde er sich bestimmt nicht mehr an mich erinnern.
    »Ich glaube nicht. Ich war nur gerade im Museum, und die Frau dort …«
    »Beth.« Er klang schroff, seine Körpersprache verriet Abwehr, während er mich von Kopf bis Fuß musterte.
    »Nun, Beth sagte, dass Sie genau der Richtige seien, mit dem ich reden sollte.« Ich begann, an dieser Theorie zu zweifeln. Aber ich war mich nicht sicher, ob sein grantiges Auftreten vielleicht nur ein Schutzschild war, also redete ich weiter. »Ich suche nach Leuten, die sich noch an die Kommune erinnern, die es in den späten sechziger Jahren hier gab.«
    Buschige, graue Brauen senkten sich über wässrige Augen. »Wieso fragen Sie?«
    »Wir kannten ein paar Leute dort, als ich ein Kind war, und ich hoffe, ein paar alte Freunde aufzuspüren.«
    Er taxierte mich immer noch, sah zu meinem Auto, dann wieder zu mir. Endlich sagte er: »Kommen Sie rein.« Er schlurfte ins Haus und erinnerte mich dabei an einen Seemann, wie er von einer Seite zur anderen

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