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Blick in Die Angst

Blick in Die Angst

Titel: Blick in Die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chevy Stevens
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Ich sah die schwarze Katze auf der Ecke des Schuppendaches kauern und hielt die Luft an. Sie lag ganz still, den Körper angespannt, und beobachtete mich. Sie sah dünner aus als beim letzten Mal, und einem Ohr fehlte ein Stückchen. Eine Narbe von dem Kampf? Ich ging zurück ins Haus und holte etwas zu fressen aus der Küche. Dann näherte ich mich behutsam dem Platz, auf dem sie saß und mich beäugte. Ich stellte die kleine blaue Schüssel auf die tiefste Stelle des Daches. Wir starrten einander an. Ich blinzelte zuerst und zog mich zurück, blieb jedoch auf halbem Weg zum Haus in der Auffahrt stehen.
    Wenn du es willst, Kleine, dann musst du es schon nehmen, solange ich dabei bin.
    Mit geschmeidigen Bewegungen lief die Katze übers Dach und schlenderte hinüber zur Schüssel, den Kopf hoch erhoben, als wollte sie sagen Ich habe keine Angst vor dir . Sie schlang das Fressen hinunter, hielt aber trotzdem immer wieder inne, um mich mit zuckendem Schwanz anzustarren. Nach einer Weile, während ich nicht aufhörte, beruhigenden Unsinn zu erzählen – wie hübsch sie sei und dass sie eine ganz brave Katze sei –, zuckte der Schwanz langsamer, und am Ende ließ sie sogar ein tiefes Schnurren hören. Als sie alles aufgefressen hatte, setzte sie sich hin und leckte eine zierliche Pfote. Ich bin vielleicht eine Straßenkatze, aber ich bin immer noch eine Dame. Dann schoss ihr Kopf in die Höhe, sie starrte über meine Schulter, flitzte über das Dach, sprang über den Zaun – und war verschwunden.
    Ich drehte mich um. Was hatte sie aufgeschreckt? Auf der Auffahrt und vor dem Haus war nichts zu sehen. Ich runzelte die Stirn, sämtliche Nerven in Alarmbereitschaft, als mich das kribbelnde Gefühl überkam, beobachtet zu werden. War da jemand? Seit ich bei der Polizei Anzeige erstattet hatte, fuhr ich bei jedem Geräusch zusammen. Dann rief ein Mann am Ende der Straße nach seinem Hund. Das also hatte ihr Angst gemacht – ein vorbeilaufender Hund. Ich atmete aus.
    Ich schnappte mir mein Fahrrad von der hinteren Veranda, wo ich es neuerdings statt im Schuppen abstellte, warf meine Tasche vorn in den Korb und radelte auf dem Spazierweg neben der Dallas Road hinunter zum Wasser. Ich blieb stehen, um zuzusehen, wie die winterlichen Wellen sich an der Mole brachen. Im Sommer legten gigantische Kreuzfahrtschiffe am Ogden Point an, und im Inner Harbour wimmelte es dann vor kameraseligen Touristen und dem Klipp-Klapp der Pferdekutschen. Victoria wurde lebendig, mit Musik- und Kunstfestivals, Konzerten in den Parks, Feuerwerk, Wasserflugzeugen, die in den Hafen und wieder hinaus rasten, und Schiffen aus der ganzen Welt als weiße Sprengsel auf dem Wasser. Ich freute mich auf die Saison, aber ich genoss auch diese letzten Wintertage, wenn Victoria zum Großteil noch den Einheimischen gehörte.
    Ich nahm mir einen Moment Zeit, die frische Luft einzuatmen, und war froh, dass ich aus dem Haus gegangen war. Nach einer Weile setzte ich meinen Weg zur Fishermen’s Wharf, dem Fischerkai, fort. Paul und ich waren oft mit den Kindern hier gewesen, um die Hafenrobben zu füttern – man konnte einen Eimer Fisch für einen Dollar erstehen. Lisa war ganz verrückt danach und redete jahrelang davon, dass sie Meeresbiologin werden wollte. Schon als kleines Kind liebte sie Tiere und bettelte immer darum, ihren Vater in die Klinik begleiten zu dürfen, um bei einem kranken Tier zu sitzen. Ungezählte Male mussten wir sie regelrecht nach Hause zerren. Wir waren sicher, dass sie Tiermedizin studieren würde, aber das entpuppte sich nur als ein weiterer Traum, der auf der Strecke blieb. Obwohl es jetzt einsamer war, kam ich immer noch gern hierher und sah den Robben zu.
    Ich holte mir aus dem Moka House einen »London Fog« – Tee mit aufgeschäumter Milch und Vanillesirup – und rollte die Rampe zum Kai hinunter. Der Imbissstand für Fish and Chips war im Winter verrammelt, aber ich freute mich, dass er noch existierte – wir kamen immer mit Garret und Lisa hierher, aber Lisa verfütterte stets die eine Hälfte ihrer Pommes an die Möwen und die andere an die Robben, so dass wir sie ständig im Auge behalten mussten. Ich hing immer noch meinen Gedanken nach, als mir die junge Frau an einem der Picknicktische auffiel. Sie trug einen verblichenen grünen Parka und hatte sich einen dicken schwarzen Wollschal um den Hals gewickelt. Die enge Jeans war an den Knien aufgerissen und steckte unten in dicken Wollsocken, bei den alten schwarzen Doc Martens

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