Blick in die Ewigkeit: Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen (German Edition)
hatte, nachdem er länger als ein paar Tage im Koma gelegen hatte. Wir waren jetzt bei Tag vier.
Der Stress forderte von allen seinen Tribut. Phyllis und Betsy waren am Dienstag übereingekommen, dass es sich in meiner Gegenwart verbiete, mein mögliches Ableben auch nur zu erwähnen, weil irgendein Teil von mir ein Gespräch darüber möglicherweise mitbekommen konnte. Ganz früh am Donnerstagmorgen fragte Jean eine der Sta tionsschwestern nach meinen Überlebenschancen. Betsy, die auf der anderen Seite meines Bettes saß, hörte das und sagte: » Bitte, sprich in diesem Raum nicht über dieses Thema.«
Jean und ich waren einander immer extrem nahe gewesen. Wir waren genauso ein Teil der Familie wie unsere anderen Geschwister, welche die leiblichen Kinder unserer Eltern waren, aber die Tatsache, dass Mama und Papa uns »ausgewählt« hatten, verband uns unweigerlich auf eine ganz besondere Weise. Sie hatte immer auf mich aufgepasst, und ihre Frustration darüber, dass sie in der gegenwärtigen Situation völlig machtlos war, brachte sie an die Grenze ihrer Belastbarkeit.
Tränen traten in Jeans Augen. »Ich muss für eine Weile nach Hause gehen«, sagte sie.
Nachdem sie festgestellt hatten, dass eine Menge Leute da waren, die weiterhin an meinem Bett Wache halten konnten, waren sich alle einig, dass das Krankenhauspersonal vermutlich froh sein würde, eine Person weniger in meinem Zimmer vorzufinden.
Jean kehrte in unser Haus zurück, packte ihre Sachen und fuhr noch am selben Nachmittag wieder heim nach Delaware. Mit ihrer Abreise gab sie erstmals einem Gefühl deutlich Ausdruck, das sich allmählich in der ganzen Fami lie breitmachte: Machtlosigkeit. Es gibt wohl wenige Erfah rungen, die frustrierender sind, als einen geliebten Menschen im Koma zu sehen. Man möchte helfen, kann aber nicht. Man möchte, dass die Person ihre Augen aufmacht, aber sie tut es nicht.
Familienangehörige von Komapatienten verlegen sich oft darauf, die Augen des Patienten selbst zu öffnen. Damit wollen sie die Entscheidung praktisch erzwingen und dem Patienten das Aufwachen befehlen. Natürlich funktioniert das nicht, und es kann die Moral dessen, der es versucht, noch weiter schrumpfen lassen. Bei Patienten im Tiefkoma funktioniert die Koordination der Augen und der Pupillen nicht mehr. Wenn Sie die Augenlider eines Patienten, der im Tiefkoma liegt, öffnen, sehen Sie vermutlich Augen, von denen eines in die eine und das andere in die andere Richtung schaut. Das ist ein zermürbender Anblick, und er verstärkte Holleys Schmerz in jener Woche immer dann, wenn sie meine Augenlider aufzwang und im Wesentlichen die verdrehten Augäpfel einer Leiche sah.
Als Jean weg war, liefen die Dinge wirklich aus dem Ruder. Phyllis begann jetzt ein Verhalten an den Tag zu legen, das ich in meiner eigenen Praxis an Familienmitgliedern von Patienten zahllose Male beobachtet hatte. Sie reagierte frustriert auf meine Ärzte.
»Warum geben sie uns nicht mehr Informationen?«, fragte sie Betsy zornig. »Ich schwöre dir, wenn Eben hier wäre, würde er uns mit Sicherheit sagen, was hier wirklich los ist.«
Tatsache war, dass meine Ärzte absolut alles taten, was sie für mich tun konnten. Und Phyllis wusste das natürlich. Aber der Schmerz und die Frustration über die Situation zehrten meine Lieben einfach auf.
Am Dienstag hatte Holley mit Dr. Jay Loeffler telefoniert. Jay war bei der Entwicklung des stereotaktischen Radiochirurgie-Programms am Brigham & Women’s Hospital in Boston mein Partner gewesen, und er war damals Chef der Radioonkologie am Massachusetts General Hospital. Holley dachte daher, er könne ihr ein paar kompetente Antworten geben.
Als Holley meine Situation beschrieb, vermutete Jay, sie würde meinen Fall nicht ganz korrekt wiedergeben. Was sie ihm beschrieb, war, wie er wusste, eigentlich unmöglich. Doch als Holley ihn endlich davon überzeugt hatte, dass ich wirklich in einem Koma lag, das von einer seltenen bakteriellen Meningitis, deren Ursprung niemand erklären konnte, hervorgerufen worden war, fing er an, im ganzen Land Experten für Infektionskrankheiten anzurufen. Keiner, mit dem er sprach, hatte je von einem Fall wie dem meinen gehört. Bei Durchsicht der medizinischen Literatur bis zurück ins Jahr 1991 konnte er nicht einen einzigen Fall von E.-coli- Meningitis bei einem Erwachsenen finden, der nicht kurz davor einen neurochirurgischen Eingriff hinter sich gebracht hatte.
Seit Dienstag rief Jay mindestens einmal
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