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Blicke windwärts

Blicke windwärts

Titel: Blicke windwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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wegbrachte.
    Als sie in einen Hubschrauber umstiegen, roch er das Meer. Sie flogen eine Zeit lang durch Dunkelheit und Regen und sanken unter Klappern und Rasseln in einen großen runden Innenhof hinab. Man wies ihm eine kleines, gemütliches Zimmer zu, und er fiel sofort in tiefen Schlaf.
     
    Am Morgen, geweckt durch ein lautes Pochen von unüblicher Heftigkeit und den fernen Schreien von Vögeln, öffnete er die Fensterläden und blickte hinunter über einen glatten Luftgolf auf ein blaugrünes Meer, gestreift vom Schaum brechender Wellen, die sich an einer zerklüfteten Küste brachen, fünfzig Meter entfernt und hundert Meter tiefer. Zu beiden Seiten verlor sich eine Reihe von Klippen in der Ferne, und ihm direkt gegenüber war eine große, in die Klippen gekerbte Doppelfurche; der Höhenunterschied vom Grund der Furche bis zum Meer betrug nur etwa dreißig Meter. Schwärme von Seevögeln drehten im Sonnenschein ihre Kreise, den Schaumfetzen gleich, die von der aufgewühlten See heraufgeblasen wurden.
    Er erkannte diesen Ort. Er hatte ihn in Büchern und auf dem Bildschirm gesehen.
     
    Die Meeressäulen bei Youmier waren Teil eines weitläufigen Klippensystems, das zu den sogenannten Schwanzlocken-Inseln gehörte, die entlang der gewundenen Küste im Osten von Meiorin lagen. Die Klippen fielen zwei- bis dreihundert Meter tief in den Ozean ab, und die siebzehn Meeressäulen – die Überbleibsel großer Bogen, die die Wellen zunächst geschaffen und dann zerstört hatten – ragten wie die Finger zweier Ertrinkender aus dem Wasser auf.
    Unter Einheimischen hatte es einst die Legende gegeben, dass dies die Finger eines ertrinkenden Liebespaares seien, das es vorgezogen hatte, sich von den Klippen zu stürzen, als sich dem Zwang zu beugen, jeweils jemand anderen zu heiraten.
    Die Säulen trugen tatsächlich die Namen der Finger einer Hand, und die letzte und niedrigste, die nur vierzig Meter über die Wellen hinausragte, wurde ›Daumen‹ genannt. Die anderen waren zwischen ein- und zweihundert Meter hoch und hatten alle in etwa den gleichen Umfang; das Meer umspülte unablässig ihre Fundamente und arbeitete sich allmählich zu ihren Basaltgipfeln vor.
    Mit ihrer Bebauung war viertausend Jahre zuvor begonnen worden, als die herrschende Familie der Gegend auf der Säule, die dem Klippenkamm am nächsten war, eine kleine Steinburg errichtet und beides durch eine Holzbrücke miteinander verbunden hatte. Als die Macht der Familie im Laufe der Zeit zunahm, wurde auch die Burg immer größer, bis sich die Bautätigkeit auf eine andere Säule ausdehnte, danach wieder auf eine und so weiter und weiter.
    Der Festungskomplex breitete sich nach und nach über die verschiedenen Felstürme aus und war verbunden durch eine Reihe von Brücken – zunächst aus Holz, später aus Stein, noch später aus Eisen und Stahl; er wurde zum Regierungszentrum, er war ein Ort der Anbetung, ein Pilgerziel und Sitz des Wissens und Lernens. Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende war jeder Felsfinger mit Ausnahme des Daumens in der einen oder anderen Form besiedelt, und die gesamte Zitadelle hatte etwa ein Jahrhundert lang als Verteidigungsbollwerk gedient, ausgestattet mit schwerem Seegeschütz. Allmählich hatten sich die Anlagen auf den Meeressäulen zu einer Stadt weiterentwickelt, deren größter Teil an Land lag und sich in das Heideland hinter den Klippen ausweitete.
    Sie hatte während des Letzten Vereinigungskriegs fünfzehnhundert Jahre zuvor so ziemlich dasselbe Schicksal erlitten wie eine Hand voll anderer Städte rings um den Globus, indem sie einem Gestöber von Nuklearsprengköpfen zum Opfer gefallen war, die eine Säule vollkommen zerstörten, die Höhe einer anderen um die Hälfte verkürzten und einen aus dem Fels gesprengten Krater, der wie eine riesige Acht geformt war, an der Stelle hinterließen, wo sich die Festlandgebiete befunden hatten.
    Die Stadt wurde niemals wieder aufgebaut. Die Meeressäulen, nun vom Festland abgeschnitten, waren Jahrhunderte lang herrenlos, ein Ort für makabren Tourismus und Heimat nur für ein paar Einsiedler und eine Million Seevögel. Während einer von Chels religiöseren Zeitspannen wurden auf zwei der Säulen Klöster errichtet, danach erklärten die Vereinigten Dienste das gesamte Gebiet zum Ausbildungslager, beinahe alles wurde abgerissen und neu aufgebaut, mit Ausnahme der Brücken zum Festland, bevor sie kurz vor der endgültigen Fertigstellung des Projekts ihren Standort auf

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