Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs (German Edition)
keinen einzigen komischen chinesischen Witz gehört habe.
Dafür kenne ich diesen hier: «Ein Blinder saß einmal mit vielen anderen Leuten beisammen. Plötzlich beobachteten die Leute etwas Komisches und begannen, aus vollem Hals zu lachen. Auch der Blinde lachte. Da fragten ihn die Leute: ‹Hast du denn auch gesehen, was da Komisches passiert ist?› Der Blinde antwortete: ‹Ich habe euch lachen hören, da war ich sicher, dass es etwas Komisches gegeben haben muss.›» Dieser Witz ist nicht irgendeiner, sondern dem Band «Chinesische Witze zu allen Zeiten» entnommen, also wohl einem «Best of …» aus viertausend Jahren Witzgeschichte, der 2006 in der Reihe «Chinesisch lustig lesen» erschien, und zwar in einem chinesischen Staatsverlag und in deutscher Sprache. Alle anderen Witze in dem Büchlein sind von ähnlichem Kaliber. Was an dem ausgewählten Witz auffällt, ist nicht bloß, dass er nicht komisch ist. Sein Erzähler erachtet auch das dreimal erwähnte «Komische» für so irrelevant, dass er nicht einmal sagt, worum es sich dabei handelt. Trotzdem weiß ich, worüber die Leute in dem Blindenwitz gelacht haben, jedenfalls in etwa. Es gibt nämlich eigentlich nur eine Sache, die Chinesen wirklich komisch finden, und das ist, wenn einem ihrer Mitmenschen ein Missgeschick passiert. Rutscht jemand auf der Straße auf altem Woköl aus, fällt er die Treppe runter und/oder rennt gegen einen Laternenmast, können sie sich vor Lachen nicht mehr halten (vgl. auch «Hauptstadt der Schamlosen», S. 39). Auch meine Dolmetscherin lacht am liebsten über Tom-und-Jerry-Filme, und zwar am lautesten, wenn die Maus der Katze mit dem Hammer auf die Mütze haut, ein Amboss auf Toms Pfoten fällt oder er von einem Beil durchtrennt wird.
Wem ein Malheur passiert, dem kommt man hierzulande auch nur sehr selten zu Hilfe, sonst wäre der Spaß ja allzu schnell vorbei. Das erlebe ich immer wieder. Als zum Beispiel vor einiger Zeit nur zehn Meter von mir entfernt eine Fahrradrikscha mitsamt Passagier umkippte, gab es zunächst einmal einen lauten Knall, über den ich nicht wenig erschrak. Anders meine Mitpassanten. Wie in dem Blindenwitz lachten sie aus voller Kehle, während der Rikschafahrer seinen Passagier mühsam aus dem Rikschakasten zog, wobei der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den verrenkten Hals rieb.
Die reinste Freude, das wissen die Chinesen auch, ist die Schadenfreude. Darin unterscheiden sie sich übrigens nicht von den Tibetern. Sir Charles Bell, britischer Kolonialbeamter in Tibet und zeitweiliger außenpolitischer «Berater» des dreizehnten Dalai-Lama, führte hier in den dreißiger Jahren Chaplin-Filme vor. In seinem Tagebuch berichtet er, dass «die feine Komik, die darin liegt, Eiscreme auf die Abendkleider von Damen fallen zu lassen oder Leuten unerwartet einen Holzhammer auf den Kopf zu schlagen, den tibetischen Sinn für Humor voll ansprach». Anders als die Tibetexperten Julia Roberts, Alanis Morissette und Sting so glauben, spricht dieses gemeinsame Verständnis von Komik sehr dafür, dass Tibet und China zusammengehören.
Sollten Sie einmal selbst nach China kommen: Bringen Sie ein paar Bananenschalen oder einen Reiseamboss mit, setzen Sie diese Utensilien bei der ersten Gelegenheit gezielt ein, oder stellen Sie Ihrem Reisegefährten beim Besichtigen der Verbotenen Stadt ein Bein, am besten vor der Halle der höchsten Harmonie. Sie können uns Pekingern kaum einen größeren Spaß bereiten.
Inzwischen kenne ich doch einen komischen chinesischen Witz. Er ist in dem Buch «The Chinese» des ehemaligen Times-Korrespondenten in Peking, David Bonavia, abgedruckt und geht so: «Ein berühmter Gelehrter, bekannt für seine Trinkgewohnheiten, wurde von einem Freund besucht, der ihn fragte, warum er denn an diesem Tag nüchtern sei. ‹Ich habe mich entschlossen, das Trinken so lange sein zu lassen, bis mein Sohn nach Hause zurückgekehrt ist.› ‹Wohin hat es denn deinen Sohn verschlagen?›, fragt der Freund. ‹Er ist gerade im Laden, um Wein zu kaufen.›» Das ist eine Komik, die auch ich verstehe. Merkwürdig aber ist, dass ein vergleichbar komischer Witz in der erwähnten deutschsprachigen Anthologie fehlt. Könnte es also sein, dass die Chinesen ihre wirklich lustigen Witze nur den Engländern erzählen, weil sie uns Deutsche nicht für würdig erachten? Weitere Witzforschung tut not!
29 Merkel statt Mao
Nein, ich habe wirklich nichts dagegen, dass in Peking außer mir noch ein paar
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