Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs (German Edition)
stählen. Vor Zeiten war ich sogar mal Manager einer Punkband und stand bei den Konzerten meiner Jungs immer direkt vor den Boxen. Damit fühlte ich mich für alle Chinas dieser Welt präpariert wie kein Zweiter.
Doch vor ein paar Monaten erwischte es auch mich: Von einer Nacht auf die andere konnte ich nicht mehr schlafen. Ich suchte sofort mehrere westliche Psychologen auf, die mir unisono erklärten, das sei nichts Ungewöhnliches. «Besonders Journalisten, Fotografen und Kolumnisten, die unter Originalitätsstress stehen, sind davon häufig betroffen.» Helfen könnte mir eigentlich nur zweierlei: «Entweder Sie verlassen China für einige Zeit und erholen sich ein paar Monate in Europa. Ich empfehle da immer die dörfliche Atmosphäre Berlins. Oder Sie versuchen es mit TCM.»
Natürlich wollte ich keinesfalls nach Berlin, solange es eine Möglichkeit gab, in der zukünftigen Welthauptstadt zu bleiben. Also entschied ich mich für TCM. Diese Abkürzung steht für traditionelle chinesische Medizin, die so heißt, weil sie sehr traditionell und sehr chinesisch ist. Angeblich soll der legendäre Gelbe Kaiser das erste Kompendium der traditionellen chinesischen Medizin geschrieben haben, das Huangdi Neijing, und zwar um 2600 vor Christus. Allerdings gab es den Gelben Kaiser wohl eher nicht. Das Huangdi Neijing existiert trotzdem, entstand aber erst später, etwa im dritten oder zweiten Jahrhundert vor Christus. Es wird traditionell mit «Des Gelben Kaisers Klassiker des Inneren» übersetzt und wurde von daoistischen Ärzten und Gelehrten über die Jahrtausende immer weiter geschrieben.
Nach dieser Lehre entstehen Krankheiten, weil durch jahreszeitliche Einflüsse oder Emotionen die Yin- und Yang-Kräfte des Körpers aus der Balance geraten sind und die fünf Elemente Metall, Holz, Wasser, Feuer, Erde nicht mehr miteinander harmonieren und das Qi, die Lebensenergie, nicht mehr so recht fließt. Auch bei mir schien es an Balance und Lebensenergiefluss irgendwie zu hapern.
Mir passte die TCM-Empfehlung durch die Psychologen auch deshalb gut in den Kram, weil ich schon lange mal etwas über die chinesische Medizin erfahren wollte. Handelte es sich dabei um eine ernstzunehmende Spielart der Medizin, oder war das reine Scharlatanerie? Ich begab mich also gleich am nächsten Tag in die beste TCM-Klinik Pekings, das Dongzhimen-Krankenhaus. Hier arbeitet man mit der Universität für traditionelle chinesische Medizin zusammen, der weltweit höchsten Autorität in allen traditionell chinesischen Medizinfragen. Um vollkommen sicherzugehen, dass man mir auch die beste Behandlung angedeihen lassen würde, wählte ich die VIP-Abteilung. Hier kostet eine Diagnose umgerechnet zehn Euro statt der fünfzig Cent, die Normalsterbliche zahlen. Dafür wird man auch von den Koryphäen der TCM behandelt. Außerdem darf man auf dem Flur rauchen. Zwar wird man nicht gerade dazu aufgefordert. Aber die Krankenschwestern schreiten auch nicht ein, wenn man sich eine Kippe anzündet und später den abgebrannten Stummel auf den Boden schmeißt. Wahrscheinlich gilt das Rauchen in der traditionellen chinesischen Medizin als irgendwie heilkräftig, so wie ja auch Mao glaubte, Rauchen sei gesund (siehe Lektion «Der Untergang des chinesischen Reiches», S. 183).
Überhaupt scheint die traditionelle chinesische Medizin eine fröhliche Wissenschaft zu sein. Die Szenerie im Sprechzimmer gefiel mir jedenfalls auf Anhieb. Im Gegensatz zum Sprechzimmer eines westlichen Arztes saß hier der VIP-Doktor inmitten einer großen Schar von Schülern, Assistenten und Krankenschwestern. Gleich mehrere dieser Gehilfen waren für die Anamnese zuständig. Dazu kam ein Knochenarzt, der mit geübten Handgriffen schlechtsitzende Wirbel und sonstiges Körpergebälk wieder zurechtrückte, und zwei Protokollanten, die die Diagnose des VIP-Mediziners festhielten. Im Sprechzimmer befanden sich auch immer gleich mehrere Patienten, die gerade unterschiedliche Behandlungsphasen durchliefen. So erinnerte diese Szene an Gemälde holländischer Meister, auf welchen ein Bader auf dem Marktplatz Hof hält. Auf jeden Fall war die Stimmung ausgezeichnet – ganz anders als in jedem westlichen Krankenhaus.
Die Behandlung muss nach einem uralten Ritus verlaufen, dem auch ich gleich bei meinem ersten Besuch unterworfen war. Nachdem man mich aufgerufen hatte, versuchte ich zunächst einer Krankenschwester in gebrochenem Chinesisch meine Symptome zu schildern. Dann fühlte
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