Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs (German Edition)
sie mir den Puls. Angeblich können traditionelle chinesische Mediziner, wie Eskimos ebenso angeblich Schneesorten, unendlich viele Pulsunregelmäßigkeiten unterscheiden. Aus diesen Pulssorten ziehen sie dann ihre Schlüsse. Anschließend muss der Patient seine Zunge herzeigen, einmal den oberen Teil und dann nochmal den unteren. Auch die verschiedenen Zungeneinfärbungen von weiß über rosa bis rot – ganz schlimm sind schwarze Zungen – sagen dem Arzt, was einem genau fehlt. Jede TCM-Praxis ist also voll mit Menschen, die anderen Menschen die Zunge rausstrecken, ohne Unterlass, was garantiert zur aufgeräumten Atmosphäre einiges mit beiträgt.
Ist die Anamnese abgeschlossen, kommt die Begegnung mit dem Arzt. Meiner hieß Zhang und hatte schon mal für ein paar Monate in den Niederlanden gearbeitet. Deshalb begrüßte er mich auch auf Holländisch: «Goede dag.» Mehr Fremdsprachenkenntnisse standen ihm nicht zur Verfügung. Leider war meine bezaubernde Dolmetscherin zu diesem Zeitpunkt in Hongkong unterwegs, zweitausend Kilometer entfernt. So behalf sich Dr. Zhang eben mit meinem Handy. Er rief meine Dolmetscherin in Hongkong an und plauderte eine halbe Stunde mit ihr. Anschließend gab er mir das Telefon zurück, damit die Dolmetscherin mir in drei knappen Sätzen des Doktors Diagnose mitteilen konnte.
Die drei Sätze der Dolmetscherin lauteten: «Der Arzt sagt, deine Zunge ist zu rot. Du hast zu viel Feuer. Du bist überhaupt zu heiß.» Bisher hatte ich meine Heißblütigkeit nie als Makel empfunden. Aber wenn ich vor lauter Hitze nicht mehr schlafen konnte, musste das wohl geändert werden. Zudem meinte Dr. Zhang, mir würde das Blut in der Leber stocken, und die Milz sei irgendwie zu schwach. Das war nicht erfreulich. Nach der traditionellen chinesischen Medizin ist die Milz nämlich für die Versorgung des Gehirns mit Nährstoffen zuständig. Keinesfalls wollte ich meiner schwachen Milz wegen verblöden, das könnte eventuell meinem Schreiben nicht zuträglich sein.
Was mich irritierte, war die Tatsache, dass der Arzt laut lachte, als er seine Diagnose stellte. Außerdem verschrieb er mir eine ganze Batterie von Medikamenten, die ich mir aus der Krankenhausapotheke zu holen hatte. Nur die wenigsten Packungsaufschriften konnte ich lesen. Die Arzneien, auf denen auch die lateinische Bezeichnung stand, waren Pseudoginseng, Perlenpulver und das zerriebene Horn der tatarischen Saiga-Antilope. Diese Medikamente bekam ich in dekorativen, kleinen Porzellanfläschchen à 0,3 Milligramm. Dazu verschrieb mir der lachende Dr. Zhang noch eine Mischung aus Pülverchen und Kräutern, über die ich absolut nichts wusste.
Anhand einer großen Glasvitrine in der Krankenhausapotheke konnte ich mir allerdings ein Bild davon machen, was ich eventuell zu mir nehmen würde. Hier war eine bunte Mischung verschiedener Substanzen ausgestellt, aus denen chinesische Medizin gewonnen wird: vergilbte Marienkäfer, dunkle Schwammpilze, diverse Kräuter und sogar Hölzer, silberne Tausendfüßler, verschiedene Schlangen und überraschend viele Steine. Im Bencao Gangmu, dem bedeutendsten Kompendium der chinesischen Medizin, geschrieben während der Ming-Dynastie vom Arzt Li Shizhen, sind insgesamt 1892 verschiedene heilende Substanzen und 11 096 Kombinationen aufgelistet. Wahrscheinlich kann man irgendwie alles als chinesische Medizin benutzen: geriebenen Asphalt, Ölfarbe oder getrocknetes Softeis.
Meine verschiedenen Pülverchen hatte ich in Wasser aufzulösen und dreimal am Tag zu trinken. Und wenn dieser Tee auch recht übel roch, schluckte ich ihn doch mit großer Zuversicht hinunter. Immerhin war ich zu diesem Zeitpunkt kein Novize mehr auf dem Gebiet der chinesischen Medizin. Schon in Singapur hatte ich bei Erkältungen oder kleineren Wehwehchen gerne zu traditionellen Medikamenten gegriffen. Das Tolle an denen ist nämlich oft ihr eingebauter Actionfaktor. Gegen Erkältungen wird zum Beispiel ein seltsamer Kern verabreicht, der einer Muskatnuss ähnelt. In heißem Wasser verwandelt er sich in ein Schwammmonster, das das ganze Wasserglas ausfüllt. Diesen Monstertee muss man trinken. Gut helfen auch kleine schwarze Gummibällchen, die in tischtennisballgroßen weißen Wachskugeln stecken. Die Wachsbälle werden aufgepult, und der gummiartige Inhalt wird dann gegessen. Viele der chinesischen Arzneien funktionieren letztlich so wie im Westen Überraschungseier.
Leider hatten Dr. Zhangs Medikamente
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