Blind ist der, der nicht lieben will
beschäftigen, die ihn so wissend ansahen. Verdammt, was ging nur gerade schief? Wo war sein lockeres, leichtes Leben hin? Warum bekam er es nicht mehr auf die Reihe? Was hatte sich verändert und wie konnte er das wieder rückgängig machen? Nick wollte sich nicht erinnern und er wollte auch nicht die ganze Zeit wie ein aufgescheuchtes Huhn in der Gegend herumrennen, weil er nicht stillsitzen konnte.
Dabei hatte er das Stillsitzen schon sehr früh gelernt. Mit Schlägen und Gebrüll war ihm eingebläut worden, dass er ruhig sein musste, wenn sein Vater im Haus war. Ruhig und unsichtbar für jenen Mann, dem seine Flasche immer mehr bedeutet hatte als der eigene Sohn.
Tock. Tock. Tock.
Nick hasste dieses Geräusch. Immer wieder im Takt, wie ein alter und beständig tropfender Wasserhahn. Nur war es kein Wasserhahn, denn den hätte er mit Sicherheit reparieren können. Darin war er verdammt gut geworden, wie auch in vielen anderen Dingen, nur um seinem Vater keine Möglichkeit zu geben, ihn zu schlagen. Nicht, dass es tatsächlich half. Der Säufer fand immer irgendetwas, das ihm nicht passte und das er dann auf ihn, Nick, abwälzen konnte, um ihm die, in den Augen seines Vaters, dauerhaft nötigen Schläge zu verpassen.
Tock. Tock. Tock.
„Hast du deine Schulaufgaben fertig?“
Er antwortete mit einem schlichten Nicken, weil manchmal allein seine Stimme ausreichte, um seinen Vater zu verärgern, der immer wieder aufs Neue mit seinem dreckigen Zeigefinger auf die genauso dreckige Tischplatte tippte. Drei Mal, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Pause. Und dann wieder von vorn.
Tock. Tock. Tock.
„Hast du deiner Mutter bei der Küchenarbeit geholfen?“
Wieder beließ er es bei einem Nicken, auch wenn er wusste, dass es nicht helfen würde. Der alte Säufer suchte nach einem Grund, um ihn zu schlagen und irgendwann würde er eine Frage finden, die er mit einem Kopfschütteln beantworten musste. Nick resignierte, denn heute Abend würde er wieder mit Schmerzen ins Bett gehen, da seine Mutter sich weder um ihn, noch um seine Verletzungen kümmerte, sobald dieser Mistkerl von Vater mit ihm fertig war.
Tock. Tock. Tock.
Was machte er nur immer falsch? Nick verstand nicht, warum sein Vater ihn so sehr ablehnte, oder warum er seiner eigenen Mutter so egal war. Wenn sie ihn nicht haben wollten, warum gaben sie ihn dann nicht weg, warfen ihn raus, oder taten, was er oft genug im Fernsehen gesehen hatte. Nachrichten über tote Kinder, getötet von ihren eigenen Müttern und Vätern. Ob er wohl eines Tages auch tot in einem stinkenden Müllcontainer auftauchen würde, wie der kleine Junge von letzter Woche?
„Hast du den Müll in die Tonne gebracht?“
Wie passend zu seinen Gedanken. Nick lächelte traurig. Nein, er hatte den Müll nicht in die Tonne gebracht, weil er das immer nach dem Abendessen tat und es war gerade erst später Nachmittag. Aber das würde seinen Vater nicht interessieren. Er hatte einen Grund gesucht und eben auch gefunden.
Tock. Tock. Tock.
Nick blinzelte und griff im nächsten Moment beinahe panisch über den Tisch, um Daniels Finger festzuhalten, damit der nicht wieder auf die Tischplatte tippen konnte. „Hör' auf damit.“
„Wo warst du eben?“ Daniel sah ihn mit einer Mischung aus Sorge und Fassungslosigkeit an, blieb aber ansonsten völlig ruhig. „Und behaupte jetzt nicht, dass alles in Ordnung ist. Ich konnte gerade im Sekundentakt dabei zusehen, wie du immer blasser geworden bist. Nick, du siehst aus wie eine frisch gekalkte Mauer.“
„Ich kann das nicht ausstehen“, presste er hervor und holte tief Luft. „Halt die Finger still. Bitte. Er hat das auch immer gemacht und ich hasse das. Ich... mach' es einfach nicht, okay?“
Daniel nickte schweigend und schaute gleichzeitig zwischen ihm und seinen Fingern, die Nick immer noch mit einer Hand umklammert hielt, hin und her. Und plötzlich begriff er, was mit ihm passiert war. Nick erkannte es in dem Moment, als sich Daniels Augen völlig schockiert weiteten. Ihm wurde schlecht.
„Wer?“, fragte Daniel kaum hörbar und schüttelte den Kopf, um zu verhindern, dass er log. Nick wusste es. „Wer hat dir das angetan? Lüg' mich nicht an, Nick. Bitte, lüg' mich jetzt nicht an.“
Er gab auf. „Mein Vater.“ Daniel öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch nun war er es, der den Kopf schüttelte. „Nein. Sag' nichts. Ich kann dir nicht... ich kann es nicht...“ Nick schob den Stuhl zurück und stand auf. Er musste
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