Blind ist der, der nicht lieben will
Chaos, was hier momentan herrschte, überstanden hatten, würde er sich hinsetzen und eine Strategie entwickeln. Mit Lindas Hilfe, denn die war wirklich gut, was vernünftige Organisation und Zeitpläne anging. Es musste einen Weg geben, beides zu haben, den Erfolg mit seiner Kanzlei und ein Privatleben, das nicht beständig am seidenen Faden hing.
„Nick, was ist passiert?“, riss ihn Tristans nächste Frage aus seinen Überlegungen. „Ich bin wachgeworden, als Daniel vorhin kurz reingeschaut hat. Er hat zwar nichts gesagt, aber so besorgt wie er dich ansah, kann ich mir denken, dass irgendetwas los war. Habt ihr gestritten?“
Nick verkniff sich ein frustriertes Stöhnen, denn jetzt würde er Farbe bekennen müssen. Auch wenn Tristans Vater ihn ohne Erklärung hatte ziehen lassen, Tristan würde ihn nicht einfach davonkommen lassen. „Nein.“ Nick befeuchtete sich mit der Zunge die plötzlich trockenen Lippen. „Jedenfalls nicht wirklich... Ich habe Dan von meinem alten Herrn erzählt.“
„Freiwillig?“, wollte Tristan leise und vorsichtig wissen, als wäre er nicht sicher, ob er deswegen Ärger bekam. Kein Wunder.
„Nein“, gestand Nick und schloss die Augen, weil er seinen Blick aus irgendeinem ihm unerfindlichen Grund plötzlich nicht mehr von Tristans Nacken lösen konnte und weil ihm auf einmal übel wurde. „Dan hat Lunte gerochen und ich konnte ihn in dem Moment einfach nicht anlügen. Ich weiß, dass er in Gedanken bei seinen eigenen Peinigern war und...“
Nick brach abrupt ab, weil er plötzlich eine feuchtkalte Hand in seinem Nacken spürte, obwohl ihm bewusst war, dass er sich das nur einbildete, weil sein Vater ihn gern im Nacken gepackt und zu sich gezogen hatte, bis sie Nase an Nase waren, bevor er dann zuschlug. Es konnte auch gar keine Hand da sein und ihn berühren, weil eben genau diese Hand, die in seinem Nacken gerade ihren Druck erhöhte, beziehungsweise, der abgewrackte Körper zu dem sie gehörte, seit Jahren unter der Erde vermoderte. Reine Einbildung. Trotzdem brach ihm der kalte Schweiß aus.
Er hatte diese Hand gehasst. Das eklige Gefühl der feuchtkalten Finger mit den vielen Schwielen und der Hornhaut, wie sie rau über seine Haut geglitten war, um dann völlig unvermittelt und meistens auch verdammt hart zuzupacken, bevor sein Vater ihn zuerst laut angeschrien und danach grün und blau geschlagen hatte. Alles unter den lieblosen Augen seiner Mutter, die nur stumm daneben gesessen und nichts getan hatte. Nichts.
„Nick!“
Nick riss die Augen auf und schaute direkt in Tristans, der sich wieder zu ihm gedreht hatte, ohne, dass es ihm aufgefallen war, und der ihn mit einem Gesichtsausdruck ansah, der zwischen purem Entsetzen und scheinbar heftigen Schmerzen schwankte. Entsetzen? Gut, dass konnte Nick nachvollziehen, aber wieso Schmerzen?
„Was ist denn?“, fragte er irritiert und besorgt zugleich.
„Lass locker, du brichst mir die Hand.“
Nick blinzelte, dann merkte er, dass er Tristan gerade die Hand zusammenquetschte und ließ ihn umgehend los, um im Anschluss daran zurückzuweichen und sich aufzusetzen. „Mein Gott. Tut mir leid... es tut mir leid...“ Hoffentlich hatte er Tristan nicht verletzt. Nicht schon wieder. „Ich hole deinen Vater und...“
„Hey, wow, komm' schon. Nick, ist doch alles gut...“, unterbrach Tristan sein hilfloses Gestammel und hielt ihn fest, bevor er aus dem Bett springen und aus Tristans Zimmer rennen konnte. „Ich lebe noch, keine Panik.“
„Keine Panik?“ War Tristan jetzt verrückt geworden? „Tris!“
Der winkte nur ab und schüttelte dabei die von ihm zerquetschte Hand. „Es ist nichts gebrochen, das würde sich anders anfühlen.“ Nick sah Tristan zweifelnd an, was den schief grinsen ließ. „Hey, ich muss das wissen, so oft wie ich als Bengel mit einem Gips in der Gegend herum gelaufen bin.“ Er war immer noch nicht überzeugt und Tristan sah es ihm an. „Sag' mal, hörst du mir eigentlich zu? Es ist alles okay. Du hast mir nichts getan.“
„Aber...“, wollte er widersprechen mit Blick auf die Zimmertür, kam aber nicht weit.
„Nichts, 'aber'“, fuhr Tristan ihm über den Mund und schüttelte den Kopf, als Nick ihn wieder ansah. „Nick, beruhige dich. Glaubst du, das war mein erster miterlebter Flashback? Connor hatte damals genug davon und ich weiß, wie ungern du über deinen Vater redest. Ich schätze, bei dem warst du gerade auch, habe ich Recht?“
Nick rieb sich unwillkürlich über den
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