Blind
Elektroschock, als würden seine Nervenenden explodieren.
Judes ungläubiger Blick wandte sich wieder dem kleinen Mädchen zu. Er fragte sich, ob sie den schwarzen Hund aus Rauch gesehen hatte. Er wollte sie schon fragen, stellte aber fest, dass er nicht sprechen konnte, dass es ihm vorübergehend die Sprache verschlagen hatte. Reese hatte sich inzwischen wieder berappelt, stützte sich mit einem Ellbogen auf den Boden und zielte mit der .45er, die sie in der anderen Hand hielt, auf Jude.
Niemand sprach oder bewegte sich, nur die leiernde Radiostimme war zu hören. »Nach Monaten der Dürre geht den Wildpferden im Yosemite Park die Nahrungaus. Experten befürchten, dass viele von ihnen sterben werden, wenn nicht schnell gehandelt wird. Deine Mutter wird sterben, wenn du ihn nicht erschießt. Und du wirst auch sterben.«
Reese ließ durch nichts erkennen, dass sie hörte, was der Mann im Radio gerade sagte. Vielleicht hörte sie wirklich nichts, zumindest nicht bewusst. Jude schaute zum Radio. Auf dem Foto daneben hatte Craddock immer noch die Hand auf Reese' Schulter gelegt, aber Todesflecke hatten seine Augen unkenntlich gemacht.
»Lass ihn nicht näher an dich ran«, sagte die Stimme im Radio. »Er ist nur gekommen, um euch beide umzubringen. Erschieß ihn, Reese! Drück ab!«
Er musste die Stimme zum Schweigen bringen. Er hätte seinem Impuls nachgeben und den Kasten schon vorhin zertrümmern sollen. Er machte einen vorsichtigen Schritt auf die Küchentheke zu, trat dabei aber in Bons Blutlache, und sein Stiefel schoss mit einem schrill quietschenden Geräusch nach vorn. Er taumelte und machte unwillkürlich einen Ausfallschritt auf Reese zu, die ihn mit panischen Augen anstarrte. In der Absicht, sie zu beruhigen, hob er den rechten Arm und erkannte zu spät, dass er das Montiereisen in der Hand hielt, weshalb es für sie so aussehen musste, als holte er zum Schlag aus.
Reese drückte ab. Die Kugel prallte mit einem dumpf klirrenden Plong gegen das Montiereisen und riss Jude den Zeigefinger ab. Heißes Blut spritzte ihm ins Gesicht. Er starrte seine Hand an und war von dem Wunder des verschwundenen Fingers ebenso überwältigt, wie er es erst wenige Minuten zuvor vom Wunder des verschwundenen schwarzen Hundes gewesen war. Es war die Hand, mit der er die Akkorde griff. Fast der ganze Finger war weg. Mit den restlichen Fingern hielt er immer noch das Montiereisen umklammert. Dann ließ er es los. Es fiel scheppernd auf den Boden.
Marybeth schrie seinen Namen, aber ihre Stimme war so weit weg, als stünde sie draußen auf der Straße. Das Dröhnen in seinen Ohren war so laut, dass er sie kaum hören konnte. Ihm war schwindelig, er musste sich unbedingt setzen. Aber er setzte sich nicht. Er stützte sich mit der linken Hand auf der Küchentheke ab und bewegte sich langsam rückwärts, in Richtung Marybeth, in Richtung Garage.
Die Küche stank nach verbranntem Kordit, nach heißem Metall. Seine hocherhobene rechte Hand zeigte zur Decke. Der Stumpf des Zeigefingers blutete nicht allzu stark. Die Handfläche war nass von dem Blut, das an der Innenseite des Unterarms hinunterlief. Er war überrascht, wie langsam das Blut floss. Auch der Schmerz war nicht schlimm. Was er spürte, war mehr ein unangenehmer, sich im Stumpf des Fingers konzentrierender Druck. Die klaffende Wunde in seinem Gesicht spürte er überhaupt nicht. Er schaute auf den Boden und sah, dass er eine Spur aus fetten Blutstropfen und roten Stiefelabdrücken hinter sich ließ.
Was er sah, war gleichzeitig vergrößert wie auch verzerrt, so als schaute er aus einem Goldfischglas in die Welt. Jessica kniete auf dem Boden und hielt sich den Hals. Ihr hochrotes Gesicht war angeschwollen, als würde sie an einer gefährlichen Allergie leiden. Fast musste er lachen. Wer wäre gegen ein Stahlrohr am Hals nicht allergisch? Dann schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er es tatsächlich geschafft hatte, sich binnen dreier Tage beide Hände zu verstümmeln. Er musste sich zusammenreißen, um den fast krampfhaften Drang zum Kichern zu unterdrücken. Jetzt musste er auch noch lernen, wie man mit den Füßen Gitarre spielte.
Reese starrte ihn durch den schmutzigen Pulverdampfschleier mit großen Augen an, mit einem Hauch von Bedauern im Blick. Der Revolver lag neben ihr aufdem Boden. Er winkte ihr mit der linken, der bandagierten Hand zu. Er war sich nicht ganz sicher, warum er das tat. Vielleicht wollte er ihr nur mitteilen, dass er okay sei. Ihm machte
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