Blinde Angst
aufschreiben würde.
Sie hielt den Bleistiftstummel in der zitternden Hand und versuchte sich darüber klar zu werden, was sie schreiben sollte. Sie hatte sich nie wirklich auf diesen Augenblick vorbereitet, nie geglaubt, dass so etwas tatsächlich passieren könnte. Jetzt, wo der Moment da war, fragte sie sich, wie sie dieser monatelangen Hölle auf einem winzigen Zigarettenpapier Ausdruck verleihen sollte. Was schrieb man, wenn von jedem einzelnen Wort das Leben abhing?
Einen Moment lang musste sie lächeln, weil sie nicht einmal wusste, in welcher Sprache sie schreiben sollte. Sie konnte sich in drei Sprachen ausdrücken, aber nicht gut genug, um sicher zu sein, dass sie keinen Fehler machte. Und Fehler durfte sie sich jetzt keinen leisten. Wahrscheinlich machte es gar nichts aus, wenn sie auf Polnisch schrieb. Wahrscheinlich ging es ohnehin nur darum, wem der Mann mit der grünen Hose die Botschaft gab, und nicht darum, wie sie lautete. Die richtigen Leute würden wissen, wie sie sie übersetzen lassen konnten.
Das dünne Papier wurde feucht, und sie merkte jetzt erst, dass sie weinte. Sie hielt das Papier vor ihr Gesicht und blies vorsichtig. Sie durfte es nicht kaputt machen. Eine zweite Chance würde es nicht geben.
Als sie sich wieder gefasst hatte, legte sie das Papier auf ihr Knie und begann zu schreiben.
Nazywam się Aleksandra, ich heiße Aleksandra ...
12
Im Westen Haitis
Es war still und fast unheimlich auf der dreihundert Meter langen Start- und Landebahn, die man mitten in dem dichten Bergwald angelegt hatte. Es gab keine Gebäude, keine Lichter, keine Windsäcke. Nur diese alte Rollbahn mit ihrem rissigen Asphalt, der sich heiß wie eine Bratpfanne unter ihren Füßen anfühlte.
Ein alter Zaun war fast vollständig mit Weinreben und verdorrten Palmwedeln bedeckt; einst hatte es hier Hirsche und Wildschweine gegeben, die einen Piloten bisweilen erschrecken konnten, aber heute waren die Wildtiere aus Haiti praktisch verschwunden, genauso dezimiert wie die Wälder und Plantagen.
Zwei Krähen sahen sich auf der Rollbahn nach Beutetieren um. Ein haitianischer Wächter hielt dem Mädchen das Maschinengewehr vor die Nase.
Der Lastwagen, mit dem man sie hergebracht hatte, war durch ein Tor oder eine Lücke im Zaun verschwunden. Bei all den Bäumen ringsum konnte sie nicht erkennen, wo er hinfuhr.
Wenn Aleksandra hier gewesen wäre, hätte sie ihr gesagt, dass sie sich die Stelle einprägen solle, wo der Lastwagen im Wald verschwand. Und dass sie selbst genau dorthin laufen solle, wenn sich eine Fluchtmöglichkeit ergab.
Aber Jill dachte nicht daran, wegzulaufen. Selbst das Gehen fiel ihr schwer, so wie sie zitterte. Es hatte sie völlig unerwartet erwischt, als man sie aus dem Keller fortbrachte. Nun kam die Reise, vor der sie sich all die Monate in ihrem Gefängnis gefürchtet hatte.
Sie wusste, dass etwas Schlimmes passieren würde nach dem, was Aleksandra getan hatte. Sie wusste, dass sie Alek-sandra in den roten Raum bringen würden, und dass ihr dort schreckliche Dinge bevorstanden.
Jill vermisste ihre tapfere Freundin und wünschte sich, sie wäre jetzt hier bei ihr; sie wünschte, dass man sie zusammen von hier wegbringen würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie die vergangenen Wochen ohne das polnische Mädchen überleben hätte können, allein mit sich und ihren Gedanken, ohne zu wissen oder zu verstehen, was um sie herum vorging. Nun musste sie sich fragen, ob Aleksandra tot war.
Tot wie der Mann mit der grünen Hose, den sie vor der Zellentür erschossen hatten. Es hatte den ganzen Nachmittag gedauert, bis der Mann endlich gestorben war. Er lag einfach da und stöhnte und schrie und stieß irgendwelche Worte hervor, in einer Sprache, die sie nicht verstand.
Es war das erste Mal, dass sie ihre Freundin weinen sah, das erste Mal, dass Aleksandra wirklich am Rande des Zusammenbruchs stand.
Dann kam Bedard und nahm sie mit. Und Jill hörte die Schreie ihrer Freundin durch den ganzen Korridor.
An diesem Morgen waren die Wächter gekommen, um sie zu holen, doch statt in den roten Raum brachten sie sie zu diesem Flugzeug. Sie würde ihre Eltern nie wiedersehen. Nicht wenn sie diese Insel verließ – das wusste sie.
Im Rückblick hatte Jill es in ihrem Leben nie wirklich schwer gehabt. Sie hatte sich die Zeit genommen, bei sozialen Initiativen mitzumachen und Obdachlosen zu helfen. Sie hatte sich immer gegen Krieg und Armut und Diskriminierung engagiert. Aber letzten Endes
Weitere Kostenlose Bücher