Blinde Angst
war sie auch nicht anders als andere Mädchen ihres Alters. Sie dachte, sie könne sich mit den Leidenden identifizieren, doch das war nichts als Selbsttäuschung. Bis jetzt hatte sie nicht die geringste Ahnung gehabt, welches Leid es draußen in der wirklichen Welt gab.
Es war eine kleine Maschine, ein Nahverkehrsflugzeug. Man sah noch Spuren des rot-blauen Logos an der Heckflosse sowie die Reste eines Teppichs auf der Aluminiumtreppe vor der bedrohlichen Öffnung einer Tür.
Im Inneren der Maschine war es dunkel, bis auf den Lichtstrahl, der aus dem Cockpit drang. Jill konnte einen Schwarzen in schmutzigem weißen T-Shirt auf dem Pilotensitz erkennen.
Philippe, der älteste und dickste von Bedards Wächtern, wischte sich mit einem schmutzigen Taschentuch über die Stirn und wrang es hin und wieder aus, sodass der Schweiß mit einem Zischen auf den heißen Asphalt des Rollfeldes tropfte. Sein Maschinengewehr hielt er nachlässig in der Armbeuge, und er kratzte sich achtlos zwischen den Beinen und unter den Armen.
Aleksandra hatte immer gemeint, dass Philippe die Schwachstelle unter den Wächtern sei. Sie hatte gesagt, wenn sie einmal allein mit ihm sei, würde sie ihn töten und mit seiner Waffe nach Bedard suchen. Jill zweifelte nicht daran, dass sie es ernst gemeint hatte.
Plötzlich knallte es wie von einem Feuerwerkskörper, und alle erschraken. Philippe schwang seine Waffe zu der schwarzen Rauchwolke über dem rechten Flügel. Im nächsten Augenblick folgte noch ein Knall, der Propeller drehte sich ein kleines Stück, dann erwachte der Motor keuchend zum Leben. Jill sah zu, wie der Propeller immer schneller rotierte, bis seine Blätter verschwammen, und das Flugzeug begann auf seinen abgefahrenen Gummireifen zu vibrieren.
Sie wusste um die Bedeutung dieses Augenblicks. Dies würde der letzte Ort sein, an dem man sie gesehen hatte, hier auf dieser Insel, die sich Haiti und die Dominikanische Republik teilten.
Philippe sagte etwas, und sie wandte sich ihm zu und sah, dass er sie mit einem lüsternen Grinsen anstarrte. Er streckte das Maschinengewehr vor und drückte ihr den Lauf an die Brust. Sein Grinsen wurde noch breiter, sodass man einen Goldzahn sah, und er zeigte mit einem Kopfnicken auf die Treppe zum Flugzeug.
»Beweg dich«, befahl er. »Rein da.«
Jill wusste, dass Aleksandra nicht gewollt hätte, dass sie in dieses Flugzeug stieg. Aleksandra hatte immer gesagt, dass die beste Gelegenheit zur Flucht immer dann käme, wenn man sie von einem Ort zum anderen brachte. Sie hätte es gut gefunden, dass Philippe unter den Wächtern war. Ja, Aleksandra hätte das bestimmt als eine Chance zur Flucht betrachtet. Sie hatte immer an eine Chance geglaubt.
Aber Jill war nicht Aleksandra.
»Beweg dich«, blaffte Philippe noch einmal.
Jill blickte zum Dschungel hinüber, auf den Punkt im Zaun, wo der Lastwagen verschwunden war. Dann atmete sie tief ein und hielt die Luft an.
Philippe hob den Lauf seines Maschinengewehrs, bis er auf ihren Kopf gerichtet war. Einen Moment lang zögerte sie, dann atmete sie aus, und die Muskeln in ihrem Gesicht entspannten sich. Sie sah das Flugzeug an, nickte resigniert und trat einen Schritt vor.
Philippe entspannte sich, tupfte sich das Taschentuch an den Hals und kratzte sich zwischen den Beinen.
Jill hatte in den vergangenen Monaten oft an ihre Kindheit gedacht – an all die Jahre, die zu diesem Albtraum hier geführt hatten. Wie es wohl jedes Mädchen an ihrer Stelle getan hätte, versuchte sie, diese Ereignisse irgendwie einzuordnen.
Warum musste das ausgerechnet ihr passieren? Warum nicht jemand anderem, warum nicht dem Mädchen, das damals auf dem Markt neben ihr gestanden hatte? Gibt es Leute, die so was vielleicht als Teil eines großen Gottesplans sehen?
Jill, die katholisch erzogen worden war, glaubte das nicht. Kein wahrhaftiger Gott würde etwas so Abscheuliches billigen. Kein wahrhaftiger Gott würde tolerieren, dass Menschen etwas schändeten, was er geschaffen hatte.
Immerhin konnte sie nun wirklich mitfühlen, mit dem Leid in der Welt – mit jenen Menschen, die die Schrecken der Armut, des Hungers oder der Sklaverei am eigenen Leib verspürten. Sie verstand den Horror, aus der Familie gerissen zu werden. Sie verstand die Hoffnungslosigkeit, die einen erfüllte, wenn man nicht wusste, ob es ein Morgen gab. Sie wusste, dass sie mit jedem Tag, den sie von ihrem alten Leben getrennt war, ein anderer Mensch geworden war. Und es gab kein Zurück. Selbst
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