Blinde Angst
junger Mann und ein langhaariges Mädchen warteten neben einem rostigen Toyota auf sie. Dahinter sah man die Lichter des Dorfes Tiburon an der Küste.
Es war jetzt fünf Tage her, seit man ihr die Leiche ihres Mannes vor die Haustür geworfen hatte. Sie erinnerte sich an die Menschenmenge, die sich dort versammelt hatte; die Leute machten ihr langsam Platz, damit sie die Leiche auf der Straße sah. Pioche lag auf dem Rücken in den vertrockneten Palmwedeln, und die Fliegen umschwärmten die offen liegenden Eingeweide. In seinem Mund steckte ein kleiner Bleistift und ein Stück Papier. Eine Puppe, die einen Mann darstellte, war an seine Brust geheftet. In ihrem Bauch steckte eine leere Patronenhülse.
Hettie hatte ihre Tochter den ganzen Tag nicht aus dem Haus gehen lassen. Die Polizei kam erst am Nachmittag des nächsten Tages. Die Polizisten wirkten nervös und trugen schlecht sitzende Uniformen. Hettie hatte Pioche inzwischen ins Haus gebracht, Papier und Bleistift aus seinem Mund genommen, ihn ausgezogen und den Schmutz und das Blut abgewaschen.
Keiner der Polizisten berührte die Leiche oder sah sich die Schusswunde genauer an; auch der Bleistift und das Papier schienen sie nicht zu interessieren. Die Voodoo-Puppe rührten sie ebenfalls nicht an. Es würde niemand festgenommen werden. Wie man in Haiti glaubte, hatte Pioche selbst dem Tod die Tür geöffnet.
Hettie wartete noch einen Tag, bevor sie es wagte, das Haus zu verlassen und daran zu glauben, dass diejenigen, die ihren Mann ermordet hatten, nicht zurückkommen würden, um auch sie und ihre Tochter umzubringen. Dann kam sie auf die Idee, Etienne, den Freund ihrer Cousine, zu bitten, Pioches Leiche auf seinen Pick-up zu laden und zu dem alten Hungan zu bringen. Vielleicht, so dachte sie, konnte Pioches Leiche von der Schändung gereinigt werden, sodass seine Seele nach dem Tod geschützt war und sein Körper nicht als Zombie missbraucht werden konnte.
Hettie erinnerte sich an die Entwicklungshelferin von World Freedom, die an diesem Abend zu ihr kam und ihr Beileid ausdrückte. Sie fragte Hettie, ob sie wüsste, wo Pioche gearbeitet hatte, als er ermordet wurde. Jeder im Dorf wusste, dass Pioche in den Bergen arbeitete und manchmal für mehrere Tage dort war. Arbeit war in Haiti schwer zu finden, besonders für Leute ohne Ausbildung, aber Männer wie Pioche wurden hin und wieder engagiert, um in den entlegenen Ansiedlungen in den Bergen zu arbeiten, wo die Reichen wohnten. Es gab viele reiche Leute in den Bergen. Die Häuser der früheren Plantagenbesitzer waren heute Wochenendrefugien für hohe Beamte, und es gab auch einige Anwesen von Textilfabrikanten mit ihren Ausbeuterbetrieben in Port-au-Prince und von Drogenbaronen mit ihren verborgenen Flugplätzen und Lastwagenkonvois, die über die staubigen Straßen rollten und nachts die Schnellboote an der Küste erwarteten. Pioche wurde sogar manchmal in die Städte gerufen, um im Auftrag der Regierung beim Abriss irgendeines Gebäudes mitzuhelfen.
In Haiti prahlten die Leute nicht damit, wo sie arbeiteten oder wie viel sie verdienten. Zu viel zu reden war gefährlich in Haiti. Man kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten und ersparte dadurch sich selbst und seinen Nachbarn Ärger. Darum hatte Pioche auch mit Nachdruck darauf bestanden, dass Hettie kein Wort davon ausplauderte, und sie hielt sich daran, auch als die Mitarbeiterin von World Freedom sie befragte.
Noch vier Nächte, dann würde der Hungan ihr Pioches Leichnam zur Beerdigung übergeben. Und sie würde jede Nacht bis dahin mit Etienne zum Tempel des Hungan am Morne Mansinte fahren. Der Priester musste Pioches Seele unbedingt dazu bringen, die Reise anzutreten.
Hettie nahm es Pioche übel, dass er versucht hatte, den Frauen zu helfen. Warum riskierte er sein Leben und das seiner Familie für jemanden, den er gar nicht kannte? Warum hatte er sich nicht an seinen Grundsatz gehalten, dass man sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle?
Es gab so viele Fragen, die Hettie sich stellte, seit sie Pioches Leiche gefunden hatte.
Sie stieg in den Pick-up ein und hatte Mühe, die rostige Tür zu schließen. Durch mehrere Löcher im Boden stieg Straßenstaub ins Fahrerhaus. Einer der Scheinwerfer des Trucks war auf die schmale Bergstraße gerichtet, der andere beleuchtete ein halbes Dutzend klapprige Hütten.
Sie dachte an Pioches Vater. Pioche hatte nie über ihn gesprochen, aber sie hatte ihn oft gesehen, wie er das Bild
Weitere Kostenlose Bücher