Blinde Angst
richtig zu Hause hier«, brummte Brigham, während er nach der Computertasche zwischen seinen Füßen griff und sein Handy einschaltete.
»Zu Hause?«, fragte Sherry.
»Bei der Affenhitze.«
Sie lächelte. Die Stewardess hatte kurz zuvor verkündet, dass es in Kingston dreiunddreißig Grad hatte. Sherry liebte die Hitze, ja, sie fühlte sich umso wohler, je heißer es war.
Zwanzig Minuten nach der Landung saßen sie bereits auf dem Rücksitz eines Taxis.
»Zur Kapelle des West Indies Hospital«, sagte Brigham zum Fahrer. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn, und seine Arme klebten förmlich an dem schmutzigen Plastikbezug.
Aus dem Radio tönte laute Reggaemusik. Ein Räucherstäbchen am Armaturenbrett verströmte einen ekelerregend süßlichen Duft.
»Unser Mann erwartet uns bei der Kapelle; er meint, dass wir dort keine Aufmerksamkeit erregen«, teilte ihr Brigham mit.
»Wie klingt er denn?«, flüsterte sie vorsichtig, aber die Musik war so laut, dass der Fahrer sie ohnehin nicht gehört hätte.
»Jamaikanisch«, antwortete Brigham knapp.
»Nun, er muss jedenfalls ein wichtiger Jamaikaner sein«, erwiderte Sherry, Brighams schlechte Laune ignorierend, »wenn er der Presse aus dem Weg gehen will.«
Brigham musste lachen. »Ich glaube, er macht sich mehr Sorgen wegen dir, Schätzchen.«
Sherry lehnte den Kopf zurück.
Sie hatte sich heute Vormittag selbst schon ihre Gedanken über die Medien gemacht. Sie konnte kaum ihr Haus verlassen, ohne dass in Philadelphia die Telefone heiß liefen und sich alle möglichen Leute fragten, wohin sie wohl unterwegs war.
Sie trug eine randlose Sonnenbrille und eine weiße Baseballkappe, deren Schild sie tief über die Stirn gezogen hatte. Sherry benutzte keinen Gehstock – es sei denn, sie war allein oder in einer Gegend unterwegs, die sie nicht kannte – deshalb sah man es ihr nicht unbedingt gleich an, dass sie blind war. Dies lag aber auch daran, dass sie fit und sehr beweglich war; außerdem machte sie Fortschritte darin, sich durch Echolokation zu orientieren, also auf den Klang zu hören, der von den Gegenständen um sie herum zurückgeworfen wurde.
Das Taxi setzte sie vor der Kapelle des Krankenhauses ab.
Auf einem Bürgersteig gelangten sie zu drei großen Bögen und dem willkommenen Schatten eines Säulengangs.
Ein Mann trat aus einem Winkel hervor und streckte ihr die Hand entgegen. »Miss Moore« – er lächelte – »ich bin Inspektor Roily King George.«
Sherry lächelte ebenfalls und schüttelte ihm die Hand. »Danke, dass Sie uns empfangen, Inspektor. Das ist Garland Brigham, ein guter Freund.«
Brigham nickte und schüttelte dem Jamaikaner die Hand.
»Sagen Sie doch bitte Rolly zu mir«, meinte der Inspektor. »Ich habe meinen Wagen draußen stehen – wir haben nicht viel Zeit. In der Leichenhalle ist eine Frau, die die Tote sehen will, und die Premierministerin persönlich hat angerufen, damit man ihr Zugang gewährt. Es ist die amerikanische Frau – Carol Bishop.«
»Carol Bishop ist hier auf der Insel?«, fragte Sherry überrascht.
»Sie hält sich in der Dominikanischen Republik auf, seit ihre Tochter vor einigen Monaten dort verschwand. Als sie in den Nachrichten hörte, dass wir die Leiche eines jungen Mädchens aus dem Wasser geborgen haben, hat sie sich sofort ins nächste Flugzeug gesetzt.«
Sherry nickte. Jeder kannte die Geschichte von Jill Bishop.
»Könnte es denn sein, dass sie es ist?«
»Ihr Gesicht ist stark entstellt, Miss Moore, sie ist mit einer Geschwindigkeit von über hundertfünfzig Kilometer auf dem Wasser aufgeschlagen – aber, ja, es gibt gewisse Merkmale, die passen. Das Körpergewicht und die Haarfarbe.«
»Weiß die Presse, dass sie hier ist?«
»Nein, Miss Moore, da habe ich gewisse Vorkehrungen getroffen – genauso wie ich mir gedacht habe, dass ich Sie nicht vom Flughafen abholen sollte«, fügte der Inspektor fast entschuldigend hinzu. »Aus genau dem Grund möchte ich auch nicht, dass Sie durch die Eingangstür des Krankenhauses hineingehen. Niemand weiß, dass die Leiche hier ist, nur die Leute in der Pathologie und wir.«
»Was ist, wenn sie es ist?«, fragte Sherry. »Sie wissen, was passieren wird, wenn sich herausstellt, dass die Tote hier im Leichenhaus Jill Bishop ist.«
Brigham wusste, was sie dachte – dass hier ein riesiger Medienrummel losbrechen würde, dem sie gern ausweichen würde.
»Sie müssen wissen, Inspektor, wenn Mrs. Bishop das tote Mädchen als ihre Tochter identifiziert,
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