Blinde Angst
den Tisch. »Sie haben recht mit Ihrem Vorschlag, mit dem Bus nach Haiti einzureisen. Da wird an der Grenze kaum kontrolliert. Aber ich habe mich erkundigt – es gibt nur einen einzigen Bus am Tag. Er fährt am Mittag in Santo Domingo ab; sie wären dann morgen Abend um halb sieben in Pétionville. Ich habe Helmut Dantzler angerufen, und er hat alles arrangiert; ein gewisser Oberst Deaken von der haitianischen Polizei wird Sie empfangen und nach Tiburon geleiten. Niemand kontrolliert Flüge ins Ausland, also können Sie von Port-au-Prince aus zurückfliegen. Ich erwarte Sie dann mit Mr. Brigham hier in Kingston.«
»Können wir dem Polizisten trauen?«, fragte Sherry.
»Der Oberst ist vertrauenswürdig.«
»Dann danke ich Ihnen, Inspektor«, sagte Sherry.
»Gott sei mit Ihnen, Miss Moore.«
Sherry ging in der Hotelhalle zu Brigham, bevor sie aufbrachen. Seine Stimmung war trüb, und es gab nichts, was sie sagen konnte, um daran etwas zu ändern.
»Hast du dein Handy mit?«, brummte er.
»Natürlich«, antwortete Sherry. Sie war auf Brighams Rat schon vor Jahren zu einem Anbieter gewechselt, mit dem sie auch über Satellit telefonieren konnte. Das Telefon war für einen blinden Menschen unverzichtbar, vor allem wenn man bedachte, an welchen Orten sich Sherry immer wieder aufhielt.
»Kannst du mich mit Schnellwahl anrufen?«
»Ja«, stöhnte sie wie ein Kind, das sich überbehütet fühlte.
»Ich will, dass du mir noch einmal zuhörst, Sherry. Nur zuhören, okay?«
»Ja. Ich höre zu«, sagte sie.
»Wenn dir irgendetwas auch nur das kleinste bisschen komisch vorkommt, wenn dir irgendjemand oder etwas nicht ganz geheuer ist und du in einer Situation bist, wo du nicht reden kannst, dann wähl meine Nummer und leg nach dem ersten Läuten auf. Du hast GPS. Damit werde ich dich finden.«
Sherry nickte. Sie wusste, dass es Brigham sehr ernst war mit dem, was er ihr sagte, und sie wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass sie ihn nicht ernst nahm, wenngleich sie sich sicher war, dass er mit seiner Sorge übertrieb.
»Mir passiert schon nichts, Garland. Ein Polizist wird uns begleiten. Was soll da schiefgehen? Wir werden morgen Abend in Tiburon sein und am nächsten Tag zu Mittag wieder hier. Aber ich verspreche es dir trotzdem. Wenn mir irgendetwas komisch vorkommt, rufe ich an. Ja, ich rufe dich sowieso an, sobald wir in Tiburon ankommen, damit du weißt, dass alles in Ordnung ist. Abgemacht?«
Brigham brummte etwas vor sich hin.
»Bitte«, sagte sie. »Entspann dich ein bisschen. Genieße das schöne Wetter. Geh schwimmen. Gönn dir einen Drink und sieh dir die Mädchen an.«
Sie nahm seine Hand in beide Hände. »Ich bin bald wieder da.«
Er nickte, und sie küsste ihn auf die Wange.
21
Lyon, Frankreich
Das Licht der untergehenden Sonne fiel auf das Gesicht von Ludwig XIV., der auf seinem Pferd am Place Bellecour saß. Ein großgewachsener, etwas steif wirkender Mann mit einem Handkoffer überquerte den Platz und ging auf einen Amerikaner in Sportsakko und Polohemd zu.
»Graham, schön, dich zu sehen«, sagte Dantzler und streckte ihm die Hand entgegen. »Wie war's am Flughafen Saint-Exupéry?«
»Fast wie in Tel Aviv«, antwortete Graham. »Ich sehne mich nach den unschuldigen Zeiten, als man noch keine Maschinengewehre in den Terminals sah. Hast du von Mogadischu gehört?«
»Mindestens tausend Tote, ich weiß«, antwortete Dantzler.
»Die Europäische Kommission sollte darauf achten, dass man sich nicht zum Komplizen von Kriegsverbrechern macht. Der Sicherheitsberater hat ihrem Repräsentanten in Kenia gesagt, dass die Äthiopier gegen das Rom-Statut verstoßen.«
»Und das Rote Kreuz spricht von den schlimmsten Kämpfen seit fünfzehn Jahren. Wie kann das nur sein? Dass man Kriegsverbrecher als Friedenswächter unterstützt. Kommt man sich da unten nicht irgendwie dumm vor?«
Er hielt inne und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die untergehende Sonne. »Eine Unteroffizierin namens Aleksandra Goralski kam vor sechs Monaten im Auftrag der polnischen Nationalpolizei in den Ostseehafen Gdansk.«
»Eine Routine-Mission?«
»Ganz und gar nicht. Sie hat Korruptionsvorwürfe gegen den Leiter der Zollbehörde untersucht.«
»O Gott«, flüsterte Graham. »Das könnte sie sein. Habt ihr genug Handgeschriebenes, um einen Vergleich anzustellen?«
»Drei Wörter sind nicht viel, aber es wird überprüft. Sie haben genug handschriftliches Material von ihr, mit dem sie es vergleichen
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