Blinde Goettin
und drückte innerlich die Daumen, daß die Bolzen in der dünnen Furnierwand halten würden. Er zog sich aufwärts und kam hoch genug, um einen Arm über den Rand der Türöffnung auszustrecken. Er faßte den Mut, die Aufhängung loszulassen, und konnte seinen Oberkörper durch die Öffnung ziehen. Eine Minute später stand er triefnaß und keuchend im Mondschein. Sein Herz protestierte jetzt noch heftiger, und er faßte sich an die Brust. Es tat unerträglich weh, und er schloß die Brunnentür nicht ab, sondern griff nach der Schatulle und schwankte zur Hütte zurück.
Er kämpfte sich aus seinen Kleidern und stellte sich nackt vor den Kamin. Es schien verlockend, ganz hineinzukriechen, er krümmte sich auf dem kleinen Vorsprang nur zwanzig Zentimeter vor dem Feuer zusammen. Schließlich kam er auf die Idee, sich eine Decke zu holen. Die war klamm und kalt, aber schon nach wenigen Minuten wußte er, daß er nicht erfrieren würde. Die Kralle in seiner Brust hatte losgelassen, seine Haut prickelte und brannte. Seine Zähne klapperten wie besessen, aber das erschien ihm als gutes Zeichen. In der Hütte waren es bereits mindestens fünfzehn Grad, und nach einer halben Stunde hatte er sich so weit erholt, daß er einen alten Trainingsanzug, den Isländer, Wollsocken und Filzpantoffeln anziehen konnte. Er kochte sich noch eine Tasse Kaffee, und dann setzte er sich hin und öffnete die Schatulle. Sie war aus Metall, mit Gummibeschichtung und wasserdichtem Schloß.
Alles war vorhanden. Dreiundzwanzig Zettel mit Codes, ein neunseitiges zusammengeheftetes Dokument und eine Liste mit siebzehn Namen. Alles lag in einer Plastiktüte, eine unnötige Sicherheitsmaßnahme, die Schatulle war schließlich wasserdicht. Er hob die Tüte hoch. Den restlichen Inhalt machten sieben Bündel Geldscheine aus, zweihunderttausend jeweils. Fünf lagen quer, die anderen längs. Eine Million und vierhunderttausend Kronen.
Er nahm sich auf gut Glück ein Viertel von einem Bündel. Den Rest ließ er liegen. Sorgfältig schloß er die Schatulle und stellte sie auf den Boden.
Die Papiere waren ganz trocken. Erst warf er einen Blick auf die Namensliste, dann hielt er sie ins Feuer, bis er sie loslassen mußte, um sich nicht seine tauben Finger zu verbrennen. Danach blätterte er in dem Dokument.
Es war eine einfach strukturierte Organisation. Er selbst fühlte sich als unbekannter Pate im Hintergrund. Er hatte seine beiden Helfer sorgfältig ausgesucht. Hansa Olsen, weil der sich mit Kriminellen auskannte, ausgeprägtes Interesse an Geld und ein vages Verhältnis zum Gesetz hatte. Jørgen Lavik, weil er scheinbar der genaue Gegensatz zu Olsen war, tüchtig, erfolgreich, nüchtern und eiskalt. Die Hysterie des jungen Mannes in letzter Zeit bewies allerdings, daß der Alte sich geirrt hatte. Er hatte sich Schritt für Schritt vorgetastet, ungeheuer vorsichtig, als wollte er eine Jungfrau verführen. Hier eine zweideutige Bemerkung, dort ein Wort mit doppeltem Boden. Schließlich hatte er beide bekommen. Niemals – zu keinem Zeitpunkt – war er selbst in die Arbeit verwickelt gewesen. Er war das Gehirn, er hatte das Startkapital gebracht. Er kannte alle Namen, plante alle Züge. Nach zahllosen Mandaten als Verteidiger wußte er, wo die Fallen lagen. Gier. Die Gier brachte sie zur Strecke. Drogen zu schmuggeln war leicht. Er hatte gelernt, woher sie kamen, auf welche Verbindungen Verlaß war. Zahlreiche Mandanten hatten ihm kopfschüttelnd von dem kleinen Fehlgriff erzählt, der sie erledigt hatte: übertriebene Gier. Es war wichtig, jede Operation in Grenzen zu halten. Nicht zu hart zuzulangen. Ein begrenztes, aber regelmäßiges Einkommen war besser, als sich von zwei Erfolgen zum großen Wurf verlocken zu lassen.
Nein, der Import war nicht das Problem. Beim Verkauf lag das Risiko. In einer Szene voller Informanten, zugedröhnten Käufern und geldgeilen Dealern mußte man vorsichtig auftreten. Deshalb hatte er sich nie mit den unteren Ebenen der Organisation befaßt.
Nur zweimal war es schiefgegangen. Die Kuriere hatten das büßen müssen, aber die Operationen waren so klein gewesen, daß die Polizei keine Organisation im Hintergrund geahnt hatte. Die Jungs hatten die Klappe gehalten, ihr Urteil wie ein Mann getragen und sich über das eingeschmuggelte Versprechen gefreut, daß ihnen eine schöne Belohnung zuteil würde, wenn sie in nicht allzu ferner Zukunft das Gefängnis verließen. Vier Jahre waren die Höchststrafe gewesen. Aber die
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