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Blinde Goettin

Blinde Goettin

Titel: Blinde Goettin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Wärter an der Tür vorüberging.
    Heute kam er ihr nicht ganz so bleich vor. Seine Augen ließen nicht von ihr ab, während sie sich neben ihn auf die Pritsche setzte. Als sie seine Hand nahm, spürte sie, daß er zudrückte, fast unmerklich, aber sie war sicher, die kleine Geste bemerkt zu haben. Mit zögerndem Optimismus beugte sie sich vor und strich ihm die Haare aus der Stirn. Sie waren inzwischen zu lang und fielen augenblicklich zurück. Wieder streichelte sie seine Stirn und fuhr ihm dabei durch die Haare. Das gefiel ihm offenbar, er schloß die Augen und rutschte näher an sie heran. So saßen sie mehrere Minuten lang.
    »Roger«, murmelte er, seine Stimme klang belegt und rauh, nachdem er sie so lange nicht benutzt hatte.
    Karen Borg zuckte nicht einmal zusammen. Sie streichelte ihn weiter und stellte keine Fragen.
    »Roger«, wiederholte der Niederländer, diesmal etwas lauter. »Der Typ aus Sagene, der mit den Gebrauchtwagen.«
    Dann schlief er ein. Sein Atem ging regelmäßiger, und sein Körper drückte schwerer gegen ihren. Vorsichtig stand sie auf, legte ihn hin und mußte ihm einfach einen Kuß auf die Stirn geben.
    »Roger aus Sagene«, wiederholte sie leise, klopfte vorsichtig an die Tür und wurde nach zwei Minuten hinausgelassen.
     
    »Nichts. Rein gar nichts.« Polizeiadjutant Håkon Sand packte den dicken Stapel und schlug damit auf seinen Schreibtisch. Er verlor ihn aus dem Griff, und die Papiere rutschten aus dem Umschlag. »Verdammt«, sagte er nachdrücklich und bückte sich, um in dem Elend Ordnung zu schaffen. Hanne Wilhelmsen fiel auf alle viere, um ihm zu helfen. Sie knieten da und starrten einander an.
    »Ich werde mich nie daran gewöhnen! Nie!« Er redete laut und schnell.
    »Woran denn?«
    »Daß wir so oft wissen, daß etwas nicht stimmt, daß jemand etwas verbrochen hat, wer etwas verbrochen hat, was sie verbrochen haben, wir wissen so verdammt viel. Aber können wir es beweisen? Nein, wir sitzen da wie die Eunuchen, handlungsunfähig und chancenlos. Wir wissen und wir wissen, aber wenn wir uns mit unserem Wissen vor Gericht wagen würden, dann würde irgendein Verteidiger, der für jedes einzelne Glied unserer Indizienkette eine natürliche Erklärung heraushusten kann, uns alles zerpflücken. Sie pflücken und pflücken, und am Ende wird unser ganzes Wissen zu einem Brei aus unklaren Fakten, den alle einfach nur anzweifeln können. Schwupp, schon ist der Vogel frei, und die Rechtssicherheit hat gesiegt. Wessen? Meine jedenfalls nicht. Die Rechtssicherheit ist verdammt noch mal zu einem effektiven Werkzeug für die Schuldigen geworden. Sie bedeutet im Grunde, daß wir sowenig Leute wie möglich ins Gefängnis stecken. Das ist doch keine Rechtssicherheit, zum Kranich! Was ist mit all denen, die umgebracht, vergewaltigt, als Kinder sexuell mißhandelt, ausgeraubt und bestohlen werden? Teufel auch, lieber wäre ich Sheriff im Wilden Westen. Würde ein Seil an den nächsten Baum hängen und dem Banditen das Genick brechen. Ein Stern und ein Cowboyhut würden jedenfalls den meisten Leuten eine viel bessere Rechtssicherheit bieten als sieben Jahre Juristenschule und zehn blöde Geschworene. Die Inquisition! Das war noch was! Richter, Staatsanwalt und Verteidiger in einer Person! Da gab’s Äktschen, und kein Gefasel über Rechtssicherheit für Ganoven und Banditen.«
    »Das meinst du doch nicht ernst, Håkon«, sagte Hanne ruhig und las die letzten Blätter auf. Sie mußte sich fast platt auf den Bauch legen, um ein Protokoll zu erwischen, das sich unter dem Rollschrank verkeilt hatte. »Das meinst du nicht ernst«, wiederholte sie halb erstickt.
    »Na ja, nicht ganz, aber fast.«
    Sie waren beide frustriert. Es war ein sehr später Freitagnachmittag. Es hatte zu viele sehr späte Nachmittage gegeben. Sie kam damit allerdings besser zurecht als er. Sie sortierten die Papiere wieder in ihre ursprüngliche Reihenfolge.
    »Jetzt erzähl mir alles«, kommandierte er, als sie fertig waren.
    Das dauerte nicht lange. Er kannte die wenigen technischen Funde, und die taktischen Ermittlungen kamen nicht von der Stelle. Insgesamt zweiundvierzig Zeugen waren verhört worden. Nicht einer hatte eine Information beisteuern können, die Licht in die Sache gebracht hätte oder die es wenigstens wert gewesen wäre, näher untersucht zu werden.
    »Hat die Beschattung von Lavik irgendwas erbracht?«
    Håkon legte die Papiere beiseite, zog eine lauwarme Bierflasche aus einer Einkaufstüte und öffnete

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