Blinde Goettin
auf einer Einlage mit Fächern für diese Dinge, darunter war in der Schublade noch Platz für Papiere und Dokumente. Er hob die Einlage heraus, aber die Dokumente waren uninteressant. Star Tours’ Winterkatalog, ein A4-Block mit vorgedruckten Honorarabrechnungen, ein normaler Block mit Kästchenpapier. Er legte die Einlage zurück und schloß die Schublade. Darunter stand ein kleiner Rollschrank. Auch der war abgeschlossen.
Er tastete mit seinen behandschuhten Fingern unter dem Schreibtisch herum. Die Unterseite der Platte war glatt und poliert, nirgends stießen seine Finger auf Widerstand. Enttäuscht wandte er sich wieder dem Aktenschrank in der Ecke zu. Er ging durch das Zimmer, bückte sich und tastete unter dem Schrank herum. Nichts. Er legte sich auf den Bauch und ließ die Taschenlampe systematisch von einer Seite zur anderen wandern. Fast hätte er den Schlüssel übersehen, sicher, weil er nicht damit rechnete, etwas zu finden. Der Lichtkegel war schon weitergewandert, als sein Gehirn registrierte, was er gesehen hatte, und in seiner Verwirrung ließ er die Lampe fallen. Sie lag so, daß er den kleinen dunklen Flecken noch immer sehen konnte. Er riß ihn ab und erhob sich. Die Straßenlaternen füllten das Zimmer mit einem bleichen Licht, genug, um den Gegenstand sofort zu erkennen. Ein Schlüssel, ziemlich klein, der mit Klebeband unter dem Schrank befestigt gewesen war.
Fredrick Myhreng war außer sich vor Glück. Er wollte den Schlüssel eben in die Tasche stecken, als ihm eine viel bessere Idee kam. Er fischte ein wenig Knetgummi aus der Dose in seiner Tasche, wärmte es an seiner Wange und formte zwei ovale Mulden daraus. Dann drückte er den Schlüssel fest in die erste. Fredrick Myhreng mußte die Handschuhe ausziehen, um den Schlüssel von der Knetmasse zu lösen, ohne den Abdruck zu zerstören. Danach wiederholte er das Manöver mit der anderen Seite. Zum Schluß machte er noch einen Abdruck der Dicke.
Das Klebeband war noch verwendbar, und er glaubte, den Schlüssel ungefähr an der Stelle wieder zu befestigen, an der er ihn gefunden hatte. Er zog seine Jacke an, zwängte sich durch das Fenster und konnte die Fensterscheibe wieder befestigen, ohne sichtbare Schraubenzieherspuren zu hinterlassen. Rasch strich er über den Rahmen, um eventuelle Splitter zu entfernen, und blieb in der Vorzimmertür stehen, um nach seinem großen Wurf wieder zu Atem zu kommen. Er zählte von zehn aufwärts, und bei Null jagte er wie eine Rakete auf die Eingangstür zu, öffnete sie und hatte die Treppe schon halb hinter sich, als er den schrillen Alarm hörte. Er war schon einen Block weiter, als die ersten Bewohner des großen Hauses in ihre Pantoffeln gestiegen waren.
Jetzt haben sie was, worüber sie sich den Kopf zerbrechen können, dachte er triumphierend. Kein Anzeichen für einen Einbruch, nichts gestohlen, nichts angerührt. Nur eine unverschlossene Tür. Fredrick Myhreng war daran gewöhnt, mit sich zufrieden zu sein. Aber das hier übertraf fast alles. Er summte und tänzelte wie ein Kind nach einem gelungenen Streich und erwischte mit feistem Grinsen, Müh und Not gerade noch die letzte Straßenbahn nach Hause.
FREITAG, 6. NOVEMBER
Es war ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden, freitags nachmittags bei ihrem armen Mandanten vorbeizuschauen. Er sagte nichts, schien sich jedoch auf seltsame Weise über ihre Besuche zu freuen. Zusammengekrümmt und abgemagert starrte er noch immer leer vor sich hin, aber sie glaubte, die Spur eines Lächelns ahnen zu können, wenn er sie sah. Obwohl Han van der Kerch sich so energisch gegen eine Überführung ins Gefängnis gewehrt hatte, als er noch imstande gewesen war zu sagen, was er meinte, befand er sich jetzt im Osloer Kreisgefängnis. Karen Borg durfte ihn in der Zelle besuchen; es hatte einfach keinen Zweck, den Jungen in ein Besuchszimmer zu schleifen. Es war heller hier, und die Wärter wirkten redlich und so fürsorglich, wie ihre Arbeitsmenge es überhaupt zuließ. Bei jedem Besuch wurde die Tür hinter ihr verschlossen, und es gefiel ihr merkwürdig gut, eingeschlossen zu sein; dasselbe Gefühl hatte sie als kleines Mädchen zu Hause in Bergen in das Kabuff unter der Treppe getrieben, wenn die Welt ihr übelwollte. Die Besuche im Gefängnis boten ihr eine Gelegenheit zur Kontemplation. Sie saß vor dem stummen Jungen und hörte auf dem Flur den Essenwagen scheppern, das Echo von obszönen Rufen und Gelächter, das schwere Schlüsselklirren, wenn ein
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