Blinde Seele: Thriller (German Edition)
war, denn sie hatte mit Sicherheit Fragen an ihn – warum auf Thomas Chauvin geschossen worden war, zum Beispiel, und was mit dem Mord an Beatriz Delgado war. Und seine Antworten, soweit er sie geben konnte, würden nur noch mehr Fragen aufwerfen – warum Toni Kate davon abgehalten hatte, ihn, Sam, zu erschießen, und dann ihre eigene Schwester getötet hatte …
Nur auf eine der vielen Fragen hatte er im Moment eine Antwort.
Thomas Chauvin hatte Martinez gegenüber angedeutet, er habe eine Art Intuition gehabt, Sam könne in Schwierigkeiten stecken. Tatsächlich aber war der Franzose selbst schuld, dass man auf ihn geschossen hatte, weil er ein Vollidiot war.
Der Rest war zu kompliziert und abscheulich und im Augenblick größtenteils nicht zu beantworten.
Alles hing davon ab, was Toni Petit ihnen auf dem Revier sagen würde.
Und wie viel davon die Wahrheit war.
138.
Der Eid bedeutete George Wiley alles.
Alles.
Er war als Gregory Wendell geboren worden, einziges Kind wohlhabender Eltern in Tampa, mit denen er nie ausgekommen war, da weder John noch Frances Wendell sich je bemüht hatten, ihn zu verstehen.
Sein Leben hatte in gewisser Weise erst im Alter von sieben Jahren begonnen, als er sich einen Knöchel brach und fasziniert von den Künsten der Ärzte war, die ihm halfen, wieder gesund zu werden.
Von da an wusste er, was er mit seinem Leben anfangen würde.
Von da an wollte er Arzt werden.
Sein Vater, der Industrielle, hatte andere Vorstellungen. John Wendell verachtete den ärztlichen Stand, hatte die Schuld am Tod seiner beiden Eltern Ärzten gegeben, die, wie er behauptete, schlimmer als Mörder und weitaus weniger ehrlich seien. Er schlug jeden Rat in den Wind, den Ärzte ihm gaben, und machte sich lustig über seinen Sohn, als dieser ihm sein Lebensziel eröffnete. Falls Frances je anderer Meinung gewesen war, hatte sie es jedenfalls nicht gesagt.
Aber nichts und niemand konnte Gregory von seinem Ziel abbringen. In der Schule war er in Mathematik, Englisch und in den naturwissenschaftlichen Fächern am fleißigsten. In seiner Freizeit las er, was er finden konnte – über Medizin und medizinische Forschung, Romane von Cronin und Erich Segal bis hin zu den Lebenserinnerungen des großen Arztes Thomas Starzl. Wenn er nicht las, unterhielt er sich mit TV-Krankenhausserien. Er war zehn gewesen, als Emergency Room und Chicago Hope anliefen, und bald waren Carter, Greene, Geiger und Shutt seine Helden – neben Pasteur, Fleming, Lister und Osler.
*
An dem Nachmittag, an dem Gregory seinem Vater erzählte, er hätte die Fächer, die er für eine medizinische Laufbahn benötigte, insgeheim studiert, um sich einen Vorsprung zu sichern, erlitt John Wendell einen Schlaganfall und starb.
Frances gab Gregory die Schuld am Tod ihres Mannes, und das Verbot blieb bestehen. Frances sagte ihrem Sohn, er könne gern Buchhalter oder Hausmeister werden, wenn es nach ihr ginge, aber wenn er das Thema Medizin noch ein einziges Mal zur Sprache bringen sollte, würde sie ihn enterben.
Gregory entschied sich für die Buchhaltung, steckte aber jeden Cent, den er erübrigen konnte, in seine heimliche Fortbildung, indem er weiterhin wie besessen las und später das Internet benutzte. Er richtete auf seinem Computer komplizierte Passwörter ein und verschlüsselte Texte, Videos und Vorlesungen, die er für sein echtes Studium benötigte.
Drei Jahre nachdem sie zur Witwe geworden war, schluckte Frances eine Überdosis Barbiturate und zog sich eine Plastiktüte über den Kopf. Sie inszenierte alles so, dass ihr Sohn sie als Erster fand. Gregory beerdigte sie und die grauenhaften Erinnerungen und machte sich ans Feiern – bis er erfuhr, dass ihr Testament ihm die Türen zur Medizin fest verriegelt hatte.
Er hätte, wie im Testament festgelegt, bis zu seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag warten können, aber das wäre zu spät für ihn gewesen, denn man brauchte ein Jahrzehnt, nur um an die eigentliche Startlinie zu kommen, und auch wenn er Geschichten von älteren Studenten gehört hatte, die sich durchbissen, wusste Gregory, dass das nichts für ihn war.
Aber er war kein Mann, der schnell aufgab.
Hätte er richtige Freunde gehabt, hätten sie vielleicht versucht, ihm seine Pläne auszureden, aber er hatte nie enge Beziehungen zu jemandem geknüpft.
Es gab niemanden mehr. Keine Eltern oder andere nahe Verwandte, keine Freunde.
Niemanden, der ihn aufhielt.
139.
Um kurz nach acht Uhr morgens verzichtete Toni
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