Blinde Seele: Thriller (German Edition)
kleine Papiertüte in die Tasche seiner Lederjacke zu stecken, und zückte sein Handy.
Grace, die noch immer vor dem Restaurant stand, war sich im ersten Augenblick unsicher. Seine Brille war heute dunkel, und obwohl er in ihre Richtung zu blicken schien, schien er sie nicht zu erkennen. Und doch war Grace sich fast sicher, dass er der Mann war, der sie an ihrem ersten Nachmittag in Zürich angesprochen hatte.
Auf einmal hob er die linke Hand zu einer Art Gruß.
»Kommen Sie, Grace?«, forderte Dr. Mainz sie auf.
Grace erwiderte die Geste des Mannes und wandte sich dann rasch zu ihren Kollegen um. »Ja, natürlich. Entschuldigung.«
»Ein Freund?« Natalie Gérard war neugierig.
»Jemand, dem ich neulich begegnet bin«, sagte Grace. »Ein Zufall, dass wir uns hier über den Weg laufen.«
»Glauben Sie an Zufälle?«, fragte Stefan Mainz.
»Mein Mann nicht«, antwortete Grace, als sie zusammen den Hügel hinaufstiegen. »Aber ich schon. Meistens jedenfalls.«
»Ihr Mann ist bei der Polizei, habe ich gehört«, sagte Mrs. Gérard.
»Ja. Er ist Detective.«
»Es gibt einige Parallelen zwischen seiner Arbeit und Ihrer, meinen Sie nicht auch, Dr. Lucca?«, sagte der Anwalt.
»Inwiefern?«
»Sie beide müssen zuerst etwas aufdecken und dann die Schlussfolgerungen ziehen.«
Grace lächelte. »So gesehen haben Sie recht.«
Unvermittelt schoss ihr eine Erinnerung an den ersten Nachmittag in Zürich durch den Kopf. Der junge Mann im Sprüngli hatte sie gefragt, ob es ihr gut ginge. Aber dann, als sie sich zum Gehen erhob, nachdem sie sich für seine Besorgnis bedankt hatte, hatte er geantwortet: »Es war nicht so sehr Besorgnis.«
Was hatte er damit gemeint?
Grace zuckte die Achseln. Wahrscheinlich hatte es nichts zu bedeuten. Genau wie ihr falscher Eindruck, dass er mit ihr geflirtet hatte.
Und sie nahm an, dass Zürich klein genug für Zufälle war.
20.
Dr. Magda Shrike empfing eine neue Patientin. Felicia Delgado, vierzehn Jahre alt.
Beatriz Delgado, die Mutter des Mädchens, hatte ursprünglich einen Termin bei Grace vereinbaren wollen, hatte sich aber einverstanden erklärt, mit ihrer Tochter zu Magda zu kommen, als sie von Grace’ Aufenthalt in Zürich erfahren hatte.
Mutter und Tochter waren gemeinsam erschienen, zwei Brünette, beide mit überdimensionalen, undurchdringlichen dunklen Designer-Sonnenbrillen.
Beatriz hatte darum gebeten, vor dem Termin ihrer Tochter ein paar Minuten mit Magda allein zu sprechen. Magda hatte das junge Mädchen gefragt, ob es ihr recht sei. Felicia hatte nur die Schultern gezuckt und sich ins Wartezimmer gesetzt.
In Magdas Sprechzimmer wurde der Grund für die dunkle Brille rasch offengelegt.
»Meine Tochter hat eine Phobie«, sagte Mrs. Delgado. »Und ich gebe mir die Schuld an ihren Problemen.«
»Wieso?«, fragte Magda.
»Ich habe es an sie weitervererbt.« Beatriz hatte ihre Hände so fest ineinander verschränkt, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Was haben Sie an sie weitervererbt?«, fragte Magda verwirrt.
»Es heißt Ommatophobie. Angst vor Augen und Blicken.«
»Kennen Sie die Ursache Ihres Problems, Mrs. Delgado?«
Beatriz schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich glaube, ich kann mich nicht erinnern, je normal gewesen zu sein.«
»Es ist nichts Ungewöhnliches«, erklärte Magda beruhigend, »dass Leute, die an einer Phobie leiden, nicht wissen, was ihre Angst oder Abneigung ausgelöst hat. Aber was macht Ihrer Tochter so sehr zu schaffen, Mrs. Delgado? Weshalb kommen Sie mit Felicia zu mir?«
Die Notwendigkeit dieser Konsultation, erklärte Mrs. Delgado, sei durch eine Augeninfektion entstanden, die Felicia vor ein paar Tagen bekommen habe. »Gestern«, berichtete Beatriz, »nachdem Felicia sich geweigert hat, einen Arzttermin wahrzunehmen, habe ich ihr antibiotische Augentropfen gekauft und versucht, sie ihr zu verabreichen, was für mich selbst schon schwer genug war, da ich ja dieselbe Angst verspüre. Mir wurde speiübel. Felicia aber hat völlig hysterisch reagiert.«
Magda nickte und wartete, dass Beatriz weitererzählte.
»Mein Mann – ein anständiger Mann, wie ich betonen möchte – hat mich verlassen, als Felicia sieben war, weil er es nicht mehr ertragen konnte, mit einer Verrückten zusammenzuleben. Ich habe keine anderen Verwandten, ich rede nicht mit unseren Nachbarn, und im Laufe der Zeit habe ich all meine Freunde verstoßen.« Sie sprach nun mit erstickter Stimme. »Ich sage Ihnen das alles nur, weil es so schlimme
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