Blinde Seele: Thriller (German Edition)
in den Glaskörper eindringen kann.«
Er legte den Text beiseite und wandte sich dem nächsten Thema zu, dem alten Ägypten und einem seiner Lieblingsmythen über den Kampf zwischen Horus, dem Gott des Himmels, und Seth, dem Gott des Chaos.
Obwohl er ein Mann der Wissenschaft war, faszinierte ihn das Chaos auf eine Weise, wie ihr Gegenpol, die Ordnung, es niemals konnte.
Dem Mythos zufolge hatte Horus gegen Seth gekämpft, um den Tod seines Vaters zu rächen. Im Verlauf des Kampfes war Horus’ linkes Auge beschädigt worden – Teil einer mythologischen Erklärung für die Mondphasen.
Mein Gott, wie er das alles liebte! Wissenschaft, Fiktion, Mythologie … er nahm alles in sich auf, von klassischem Latein bis hin zum Studium der Regenwälder, von der Methodologie des Suizids bis hin zur Frage der Euthanasie – ein Thema, das seinen tiefsten Überzeugungen widersprach.
Seine Studien waren vielfältig, aber am liebsten arbeitete er noch immer wissenschaftlich fundiert.
Denn er war ein Mann des Lernens.
Ein Doktor.
Alles andere war Nebensache.
34.
Um zehn Uhr morgens Züricher Zeit checkte Grace am Flughafen Kloten ein.
Alles lief glatt. Sie hatte vor ihrem Flug, der mittags ging, noch ein bisschen Zeit eingeplant, um Mitbringsel zu besorgen. Schokolade für jeden, von der Sprüngli-Filiale am Flughafen, und ein paar kleine Souvenirs für die Familie, für Magda und vielleicht auch für Martinez.
Grace bemerkte nicht, dass sie aus der Ferne beobachtet wurde.
Ihre leichten, anmutigen Schritte. Das Schimmern ihres goldblonden Haars unter den Neonlichtern.
Grace passierte die Passkontrolle und den Abflugbereich und verschwand außer Sicht.
Thomas Chauvin seufzte.
Nahm seine randlose Brille ab, putzte sie mit einem weichen weißen Tuch und setzte sie wieder auf.
Wartete noch ein paar Augenblicke, als bestünde die Chance, dass Grace wiederkäme, obwohl er wusste, dass das nicht der Fall sein würde.
Die Leute kamen nie wieder.
Keine Wiederkehr.
Verschwunden.
Er seufzte noch einmal. Dann lächelte er, wandte sich um und schlenderte zurück zum Ausgang, wobei er leise vor sich hin summte.
»Je prends les poses de Grace Kelly …«
Die französische Version des Songs von Mika.
»Ich habe versucht, wie Grace Kelly zu sein …«
Die Melodie war in seinem Kopf und würde so bald nicht wieder verschwinden.
35.
Carlos Delgado saß noch immer am Bett seiner Tochter. Da es keinen triftigen Grund gab, den Mann in dieser für ihn schwierigen Situation zu einer Vernehmung von dort wegzuzerren, verbrachten Sam und Martinez den Freitagvormittag damit, die üblichen Überprüfungen vorzunehmen. Sie redeten mit Delgados Nachbarn, checkten das Umfeld in der Nähe des Tatorts und statteten schließlich der Zentrale von Delgados Immobilienfirma, CD Realty, am Biscayne Boulevard einen Besuch ab.
Der Mann war nicht vorbestraft. Seine Firma hatte die Rezession überstanden und war noch immer erfolgreich. Delgado machte einen ehrlichen Eindruck, und von finanziellen Problemen war nichts bekannt. Sein Partner, Angelo Cortez, ergriff entschlossen Partei für ihn. Er sagte zu Sam und Martinez, es sei völlig undenkbar, dass Delgado in dieses abscheuliche Verbrechen verstrickt sein könnte.
»Das hat ja auch niemand behauptet«, entgegnete Sam.
»Unsere Fragen sind reine Routine«, ergänzte Martinez.
»Aber jeder weiß, dass Sie immer zuerst die Ehemänner ins Visier nehmen«, sagte Cortez, »und ich weiß, dass Carlos Beatriz verlassen hat. Aber nur ein Heiliger hätte es mit ihr aushalten können, obwohl sie nichts dafür konnte. Die arme Frau, Gott schenke ihrer Seele Frieden.«
Delgado hätte sich immer um Beatriz und Felicia gekümmert, erzählte Cortez weiter, in finanzieller und jeder anderen Hinsicht. Er hätte alle Rechnungen bezahlt, sei immer da gewesen, wenn seine Frau ihn brauchte.
»Er konnte nur nicht mehr mit ihnen zusammenleben«, sagte Cortez.
»Gab es jemand anderen?«, fragte Martinez.
»Eine andere Frau, meinen Sie?« Cortez schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste – und ich würde es wissen, glauben Sie mir. Carlos und ich sind gute Freunde, nicht nur Geschäftspartner.«
»Bei guten Freunden lügt der eine für den anderen«, sagte Martinez auf dem Weg aus dem Gebäude.
»Du bist ein Zyniker«, entgegnete Sam.
»Und wer bist du? Pollyanna?«
Sam grinste. »Nein, aber meine Frau ist auf dem Weg nach Hause.«
*
Wieder auf dem Revier, wartete eine verschlüsselte Akte von Duval
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