Blinde Seele: Thriller (German Edition)
fühlte und am besten mit seinen Patienten reden konnte.
Die Anästhesistin – eine freundliche Frau mit sanften Händen und beruhigendem Lächeln – begann mit ihr zu reden, aber Mildred merkte, dass sie kaum noch zuhörte.
Es ist alles gut, dachte sie, kurz bevor sie rückwärts zu zählen begann, wie man sie angewiesen hatte. Es würde alles gut werden … was für eine törichte alte Frau sie doch gewesen war, sich solche Sorgen zu machen …
Sie schlief ein.
86.
Cathy ging voran auf die Terrasse, setzte sich und schraubte den Deckel von ihrer Flasche.
»Das heißt, es ist Ihnen ernst mit dem Fotojournalismus«, sagte sie.
»Sehr ernst.« Chauvin nahm links von ihr Platz und legte seine Kamera auf den Tisch.
»Na ja, fotografiert haben Sie ja jetzt. Solange Sie nicht auch den Teil mit dem Journalismus hier bei mir üben«, bemerkte sie.
»Sie sahen plötzlich so ernst aus«, erwiderte er.
»Ich meine es auch ernst«, sagte Cathy.
»Ich kann verstehen, warum.«
»Was soll das denn heißen?«
»Das soll heißen, dass ich ein bisschen darüber weiß, was Sie durchgemacht haben.«
Cathy stellte ihre Flasche ab. »Lassen Sie mich eines klarstellen. Ich will mit einem praktisch Fremden nicht über alte persönliche Geschichten reden.«
»Ich bin nun wirklich kein Fremder«, entgegnete Chauvin. »Ich bin ein Freund Ihrer Mom, und ich habe heute Vormittag ein bisschen Zeit mit Ihrem Vater verbracht.«
»Aber nur, weil er zu höflich war, um abzulehnen«, sagte Cathy.
»Autsch«, sagte Chauvin.
»Entschuldigung«, sagte Cathy. »Das war taktlos von mir.«
»Aber wahr.«
»Eigentlich nicht.« Sie hatte ein schlechtes Gewissen. »Mein Vater hätte sich nicht bereit erklärt, Sie mitzunehmen, wenn es ihm nicht recht gewesen wäre. Er wollte Ihnen gern helfen.«
»Und das hat er getan«, sagte Chauvin. »Und ich habe gestern Abend den Rest der Familie kennengelernt, aber ich hatte zu wenig Zeit mit Ihnen. Jetzt bin ich nur hier, um ein paar Schnappschüsse für mein Florida-Album zu machen, und dann werde ich verschwunden sein, bevor sich Ihnen meinetwegen die Haare sträuben.«
»Okay«, sagte sie.
»Die im Übrigen hinreißend aussehen.«
»Ach, jetzt hören Sie schon auf.« Cathy bremste sich im letzten Moment, bevor sie sich mit einer Hand durchs Haar gefahren wäre, das sie sich vor einiger Zeit kurz hatte schneiden lassen, das nun aber zu einer Art zerzaustem Bob geworden war.
»Ich mag Ihren Stil«, sagte Chauvin.
Er griff wieder zur Kamera.
»Sie haben Ihre Schnappschüsse gemacht«, sagte Cathy. »Bitte nicht noch mehr.«
Chauvin seufzte.
87.
Grace saß mit David in einem Warteraum.
Das Zimmer verfügte über jede erdenkliche Annehmlichkeit, bis auf die eine natürlich, die sich jeder Verwandte oder enge Freund wirklich wünscht, der in einem solchen Raum sitzt: gute Neuigkeiten von ihren Liebsten.
Nicht, dass Mildred in irgendeiner Gefahr schwebte, aber trotzdem: Als David vorhin angerufen und ein wenig gestresst geklungen hatte wegen des Aufschubs, hatte Grace versprochen, zu kommen und ihm Gesellschaft zu leisten, wenn Mildred endlich in den OP-Saal gebracht wurde.
Jetzt sah David hundeelend aus.
»Es ist nur, sie so verletzlich zu sehen«, erklärte er. »Ich wünschte, es wäre umgekehrt. Sie ist immer so stark für mich gewesen.«
»Und du warst immer stark für sie – für uns alle –, wenn mal irgendwas schiefgegangen ist«, sagte Grace. »Eine Ehefrau könnte sich keinen besseren Beistand von ihrem Mann wünschen. Außerdem wissen wir beide, dass die Operation, von Mildreds Ängsten abgesehen, ein einfacher Eingriff ist, der eine wunderbare Wirkung hat. Und wegen ihrer Ängste musst du dir keine Sorgen machen. Sie schläft ja.«
»Deshalb habe ich eine Vollnarkose befürwortet, aber jetzt …«
»Mildred ist gesund«, sagte Grace. »Und es ist nur eine kurze Narkose.«
»Ich weiß«, sagte David. »Trotzdem, es kann immer etwas schiefgehen.«
»Sehr selten.« Sie blickte in sein zerfurchtes Gesicht mit der Hakennase und dachte an vergangene Zeiten, als er Gründe gehabt hatte – schreckliche Gründe –, ängstlich zu sein. Aber auch jetzt hatte er Angst. »Du bist wirklich nervös.«
»Das bin ich.« David blickte verwirrt drein. »Mildred hat nicht darüber geredet, aber ich konnte spüren, dass sich ihre Ängste in den letzten Tagen zu irgendetwas Schlimmerem zugespitzt haben. Es war beinahe so, als hätte sie irgendeine Vorahnung.«
»Offenbar hat sich
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