Blinde Seele: Thriller (German Edition)
sein.
»Lesen Sie da nicht zu viel hinein«, sagte Felicia. »Ich nehme die Brille oft ab. Meistens, wenn ich allein bin.«
»Es ist schön, endlich mal dein Gesicht zu sehen«, sagte Grace.
»Ich weiß nicht«, sagte Felicia. »Dieses ganze Zeug, nur wegen meinen … Sie wissen schon.«
»Ja«, sagte Grace.
»Jetzt scheint es nicht mehr so wichtig.«
Grace wartete.
Felicia leckte sich die Lippen ab. »Nicht, wenn ich an meine Mom denke.«
Sie brach in Tränen aus und weinte leise. Grace hätte sich gern zu ihr gesetzt und ihr den Arm um die Schultern gelegt, aber sie blieb, wo sie war, und wartete darauf, dass die Vierzehnjährige sich wieder fing.
»Wir haben uns gestritten«, sagte Felicia schließlich.
114.
»Wir sind noch am selben Tag weggegangen«, fuhr Toni fort. »Solange der Sturm tobte, war jeder mit sich selbst beschäftigt. Ich habe unsere Fingerabdrücke von der Remington abgewischt und sie unserem Vater in die Hand gedrückt, damit es so aussah, als hätte er sich selbst erschossen. Dann bin ich noch mal zurück ins Haus und habe eine Nachricht für Mrs. Larsson geschrieben, die Teilzeit-Haushälterin meines Vaters, die ihn vermutlich finden würde, weil sie als Nächste vorbeikommen würde. Ich schrieb, wir hätten Jakes Leiche gefunden. Er hätte sich das Leben genommen. Ich schrieb ihr, wo sie den Toten finden könne und dass ich es nicht mehr aushielte und zusammen mit Kate weggehen würde.«
»Ich wollte aber nicht fort«, sagte Kate. »Toni hat mich gezwungen.«
»Warum seid ihr denn überhaupt weggegangen?«, fragte Sam. »Der Tod eures Vaters war nicht Kates Schuld. Es war ein Unfall.«
»Aber ich hatte die Waffe geholt«, sagte Toni. »Deshalb war es meine Schuld.«
»Und wenn wir geblieben wären«, warf ihre Schwester ein, »hätte ich den Leuten vielleicht gesagt, dass Toni unseren Vater erschossen hatte.«
»Deshalb seid ihr abgehauen?«, fragte Sam.
»Zum Teil ja«, sagte Toni. »Aber vor allem, weil ich wusste, dass man Kate in Pflege geben und mich womöglich einsperren würde, selbst wenn man uns die Wahrheit geglaubt hätte. Jedenfalls war ich die Einzige, die die Bedürfnisse meiner Schwester verstand, deshalb durfte ich nicht zulassen, dass man uns trennte. Ich musste Kate beschützen.«
»Was habt ihr als Nächstes getan?«, fragte Sam.
»Ich habe die Colt-Pistole und das meiste Bargeld aus dem Safe unseres Vaters geholt. Es war weitaus mehr, als ich erwartet hatte – richtig viel Geld. Ich habe keine Ahnung, woher er es hatte. Die Sache war ganz einfach. Ich musste ihm nur die Schlüssel abnehmen, den Safe dann wieder abschließen und die Schlüssel wieder an seinem Gürtel befestigen. Wahrscheinlich wusste niemand außer ihm selbst, wie viel Geld er im Lauf der Jahre auf die Seite geschafft hatte oder woher er es hatte.«
Toni hatte es »einfach« genannt, fiel Sam auf, zweimal zu dem grauenhaften Anblick ihres toten Vaters zurückzukehren. Nicht viele erwachsene Männer, geschweige denn fünfzehnjährige Töchter, würden das »einfach« nennen.
»Dann haben wir eingepackt, was wir brauchten«, fuhr Toni fort, »und haben uns auf den Weg gemacht. Wir sind ein bisschen getrampt und haben uns schließlich bis nach Florida durchgeschlagen.«
»Hat euch denn niemand gesucht?«, fragte Sam.
»Keine Ahnung. Jedenfalls hat uns nie jemand gefunden. Wir haben unseren Nachnamen in ›Petit‹ geändert. Vielleicht haben die Leute zu Hause ja wirklich geglaubt, Jake Grand hätte sich selbst erschossen. In dieser Nacht jedenfalls war die Hölle los. Bäume stürzten um, ganze Ernten wurden vernichtet. Ein Farmer weniger, der Schadensersatzansprüche an die Versicherung stellte. Zwei Kinder weniger, um die man sich kümmern musste. Und niemand, der uns vermisste. Mrs. Larsson blieb immer für sich, erledigte ihre Arbeit und fuhr dann wieder nach Hause. Ich nehme nicht an, dass es sie gekümmert hätte.«
»Sie konnte mich nicht leiden«, sagte Kate.
Ihre Erregung schien ein wenig abgeflaut zu sein. Sam fragte sich, ob sie in absehbarer Zeit vielleicht erschöpft sein würde, sodass er die Chance bekam, ihr die Waffe zu entreißen.
»Habt ihr eure Namensänderung offiziell gemacht?«, fragte er.
»Natürlich nicht«, sagte Toni. »Ich hätte gar nicht gewusst, wie man so etwas macht, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wir hatten mehr als genug für unseren Neuanfang, und ich konnte schon immer gut nähen, deshalb habe ich als Schneiderin unseren
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