Blinde Seele: Thriller (German Edition)
Stürme reagiere ich oft empfindlich, aber so war es noch nie gewesen. Der Sturm schien irgendetwas in mir zu schüren … Kraft vielleicht.« Sie blickte Sam an. »Ich machte mich auf die Suche nach der Remington. Ich hatte die Waffe immer schon bewundert, und unser Vater liebte sie geradezu. Ich hatte sie ein paar Mal in der Hand gehalten, hatte versucht, ihre Kraft in mich aufzunehmen, aber sie hatte mir immer auch Angst gemacht.«
Sie verstummte.
Im Zimmer war es still. Keine Geräusche mehr bis auf das gelegentliche leise Motorgeräusch von Autos auf der Foster Avenue und, weiter entfernt, das Heulen von Sirenen.
»An dem Tag hatte er mich mit seinem Gürtel und mit den Fäusten geschlagen«, fuhr Toni schließlich fort. »Er hatte mich sogar getreten. Ich war das alles schrecklich leid. Wir hatten von dem Hurrikan gehört, der im Anzug war. Der Wind frischte merklich auf, und wegen des Sturms fühlte ich mich …« Tonis Stimme verlor sich, und sie blinzelte. »Jedenfalls, ich habe die Pumpgun gefunden, habe sie mir genommen und mich auf die Suche nach Jake gemacht. Und ich habe ihn gefunden.«
»Nur dass ich ihr wieder gefolgt war«, sagte Kate. »Ich hatte gesehen, wie sie sich die Waffe nahm.«
Kates Hände zitterten leicht, aber sie nahm sich zusammen, schien sehr gefasst. Der Colt, der einst ihrem Vater gehört hatte, war noch immer auf Sam gerichtet. Er vermutete, dass ihre dunkle Brille geschliffen war und dass man ihre Sehkraft auf dem rechten Auge genau korrigiert hatte …
»Kate sah mich zielen«, fuhr Toni fort. »Sie schrie auf, rannte auf mich zu und riss mir die Pumpgun aus der Hand. Sie war stärker, als mir bewusst gewesen war, aber trotzdem … hätte ich mich entschlossener zur Wehr gesetzt, hätte ich die Waffe festhalten können. Aber ich weiß noch, dass ich Angst hatte, sie könnte losgehen und Kate treffen, deshalb habe ich die Pumpgun ihr überlassen.«
Sam wartete.
»Und dann entschied ein Baum, eine Sumpfzypresse – unser ganz eigener Louisiana-Staatsbaum –, dass er dem Wind keine Sekunde länger standhalten könne. Er stürzte um. Ich sah, dass er Kate treffen würde, also riss ich sie aus dem Weg. In diesem Moment ging die Waffe los. Die Kugel traf unseren Vater genau zwischen die Augen.«
»Sie hat ein großes schwarzes Loch gerissen«, sagte Kate und schauderte. Es war ein Schauder, der bis in ihre Fingerspitzen zu gehen schien. Und doch hielt sie den Colt noch immer fest umklammert.
»Das war der Augenblick, als mein Verstand sich wieder einschaltete«, fuhr Toni fort. »Und meine kleine Schwester den ihren verlor …«
112.
Mildreds Etage war verlassen bis auf eine einzige Schwester auf ihrer Station in der Nähe der Aufzüge.
»Ich suche Dr. Wiley«, sagte David beiläufig zu ihr.
»Die Lounge im Erdgeschoss.« Die Schwester lächelte. »Ich habe Ihren Freunden gerade erst den Weg beschrieben.«
Freunden und Zivilpolizisten.
David rang mit sich. Vier Stockwerke hinunter. Alte Beine, altes Herz.
Er nahm den Aufzug.
Er hatte versucht, bei Mildred zu bleiben, einfach abzuwarten – ganz der Ruheständler, der er sein sollte – und die Cops ihre Arbeit machen zu lassen. Wenn irgendjemand Respekt vor der Polizei hatte, dann war es David Becket, der mächtig stolz auf seinen Sohn war, den Detective. Und Lieutenant Alvarez und Beth Riley traute er – vielleicht mit Ausnahme von Sam – am ehesten zu, dass sie diesen Mann, diesen »Arzt« festnageln würden.
Und doch hatte er es nicht abwarten können. Er wollte – musste – mit eigenen Augen sehen, wie George Wiley festgenommen und aus der Adams Clinic entfernt wurde.
Er musste wissen , dass Mildred sicher vor diesem Mann war.
*
Im Erdgeschoss sah er sie. Den Lieutenant, den Detective und ihn .
Sie redeten.
Alvarez redete mit dem Scheißkerl!
David ging mit entschlossenen Schritten auf die Gruppe zu. »Warum haben Sie ihm keine Handschellen angelegt?«
»Schon gut, Dr. Becket«, sagte Alvarez. »Mir wäre es lieber, Sie blieben …«
»Was soll denn hier gut sein?«, entfuhr es David. »Dieser Mann muss dingfest gemacht werden! Er gehört hinter Schloss und Riegel!«
»Wir kümmern uns darum«, sagte Beth Riley.
»Haben Sie dieses Instrument gefunden?«, wollte David wissen. »Oder hat er es beseitigt? Zeit genug hatte er ja, weiß Gott.«
»Ich erzähle den Beamten gerade meine Sicht der Geschichte«, sagte George Wiley. »Jede Geschichte hat zwei Seiten, Dr. Becket, erinnern Sie sich?«
»Wagen
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