Blinde Voegel
siegesgewiss in die Kamera. Ein bekannter Wiener Schriftsteller hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt.
Eine hübsche Frau, fand Beatrice. Man sah, dass Helen stark auf die fünfzig zuging, aber erst auf den dritten oder vierten Blick. Auf den ersten hielt man sie für Mitte dreißig.
Sie pflegte eine stattliche Freundesliste von fast tausend Usern, viele davon Künstler. Beatrice suchte nach Sarah Beckendahl, aber die fand sich nicht unter den Auserwählten.
Das nächste Profil. Christiane Zach, sie gab als Arbeitgeber das Landeskrankenhaus Salzburg an und hatte eine Katze, die sie täglich offenbar mehrmals fotografierte, der schieren Anzahl der Bilder nach zu schließen. Darüber hinaus mochte sie Reggae, Eislaufen und alte Fernsehserien. Okay. Beatrice vergrößerte das Profilbild: rundes Gesicht, braune, dauergewellte Haare, Brille. Niemand, den sie auf der Straße wiedererkennen würde. Ihre Katze schon eher.
Ivonne Bauers Profil war nur Freunden zugänglich. Unbekannten verriet sie nicht das Mindeste, nicht mal, wie sie aussah, denn ihr Profilbild zeigte ein Segelschiff. Kennst du Ivonne? war alles, was unter der Rubrik «Info» zu lesen stand.
«Nein, tue ich nicht», murmelte Beatrice.
Nikola DVD. Das gleiche Problem. Als Profilbild das Foto eines blonden Mädchens mit Pferdeschwanz und Zahnlücke – vermutlich Nikolas Tochter oder Nikola selbst als Kind. Ein wenig auf alt gemacht, vielleicht mit einem der Bildprogramme, die gerade die Runde machten. Instagram, Lomo, wie sie alle hießen. Aber keine weiteren Informationen. Hier hatte sich jemand genau mit den Privatsphäre-Einstellungen auseinandergesetzt. Man konnte aus dem Kürzel «DVD» höchstens schließen, dass sie eine beträchtliche Sammlung an Filmen zu Hause haben mochte. Sonst nichts.
«Sehr lobenswert, wenn man vom Kinderfoto absieht», sagte Beatrice zu der Kleinen, die ihr selbstbewusst entgegengrinste. «Aber für meine Zwecke leider hinderlich.»
Im Ernstfall war das nur ein temporäres Hindernis. Mit einem richterlichen Beschluss würde Facebook ihnen Einsicht in die jeweiligen Profile ermöglichen, nur mussten sie den erst einmal bewilligt bekommen. Datenschutz wurde bei den Behörden derzeit großgeschrieben, keiner wollte sich die Finger verbrennen, schon gar nicht, wenn der betreffende User nicht unter dringendem Tatverdacht stand. Besser wäre es also, Tina Herbert schickte Nikola und Ivonne je eine Freundschaftsanfrage. Aber nicht mehr heute Abend.
Mehr Glück hatte sie bei Dominik Ehrmann. Sie konnte die Meldungen in seiner Chronik zwar nicht lesen, seine persönlichen Informationen aber sehr wohl.
Hat Sozialwissenschaften hier studiert: Universität Bielefeld
Wohnt in: Wo es mir gefällt
Arbeitet bei: Städtisches Gymnasium Gütersloh
Ehrmann lebte also in Deutschland und war vermutlich Lehrer. Seine Interessen zeugten von hohem sozialem Engagement – Amnesty International, Greenpeace, WWF –, und sein Profilbild war ansprechend. Helles, leicht gewelltes Haar, blaue Augen und ein Lächeln, das auf einen offenen Charakter schließen ließ. Sie ertappte sich dabei, dass sie nach seinem Beziehungsstatus Ausschau hielt, aber den hatte er nicht angegeben.
Zum Schluss nahm sich Beatrice noch Ira Sagmeister vor, die Frau, die die Allgegenwart des Todes nicht ertragen konnte.
Auch sie gehörte zu denen, die ihr Gesicht nicht zeigten, obwohl Beatrice vermutete, dass der Schemen auf dem Profilbild ihr eigener war. Aber sie hatte eine Gegenlichtaufnahme gewählt, auf der man außer dem Schattenriss eines langhaarigen Kopfes auf schmalen Schultern nichts erkennen konnte.
Beatrice klickte auf Info und war überrascht, dass auch Ira, wie so viele aus der Gruppe, nach eigenen Angaben in Salzburg lebte. Sie unterstrich den Namen doppelt auf ihrer Liste, bevor sie weiterlas.
Viel gab es da nicht mehr. Immerhin hatte Ira die Rubrik Über mich für alle sichtbar ausgefüllt.
Du füllst mich an wie Blut die frische Wunde
und rinnst hernieder seine dunkle Spur,
du dehnst dich aus wie Nacht in jener Stunde,
da sich die Matte färbt zur Schattenflur,
du blühst wie Rosen schwer in Gärten allen,
du Einsamkeit aus Alter und Verlust,
du Überleben, wenn die Träume fallen,
zuviel gelitten und zuviel gewußt.
Wow. Das war starker Tobak, aber nicht von Ira Sagmeister selbst. Beatrice kannte das Gedicht und war sich fast sicher, dass es von Gottfried Benn stammte.
Sie googelte. Ja. Abschied von Gottfried Benn. Auf die Strophe, die
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